Hans-Heinrich Dieter

Phantastereien   (22.11.2020)

 

In ihrem Kommentar im Deutschlandfunk „Diplomatie und Kompromissfähigkeit reichen nicht“ meint Ursula Welter: Eine „Sicherheits- und Verteidigungsunion“ gibt es im engeren Verständnis des Wortes noch nicht…Zurücklehnen ist (aber) keine Option. Und dabei verweist sie auf eine Neuausrichtung der französischen Verteidigungspolitik, die Präsident Macron kurz nach seinem Amtsantritt 2017 verkündet hat. Und seitdem wird immer wieder von einer „europäischen strategischen Autonomie“ und von einer „europäischen Verteidigungsunion“ gesprochen.

Und tatsächlich ist seit 2017 ja schon einiges erreicht worden wie ein europäischer Verteidigungsfonds, die ständige strukturierte Zusammenarbeit und – verbal - auch eine Interventionsinitiative. Aber da Macron eine sehr weitgehende Unabhängigkeit von den USA anstrebt, reicht ihm das nicht. Deswegen bringt er mit einer europäischen strategischen Autonomie die französische „Force de dissuasion nucléaire“ („nukleare Abschreckungstreitmacht“) ins Gespräch und meint damit einen Nuklearschirm über die EU spannen zu können.

Die deutsche Verteidigungsministerin hat das in der vergangenen Woche als Illusion bezeichnet und auf die Bedeutung der USA für die Sicherheit Europas hingewiesen: „Illusionen über eine europäische strategische Autonomie müssen enden.“ Macron hält das im Gegenzug für eine „historische Fehlinterpretation“! Das ist nicht das erste Mal, dass Deutschland und Frankreich in sicherheitspolitischen Fragen unterschiedlicher Auffassung sind. Da sollte man noch etwas genauer hinschauen.

Europäische strategische Autonomie bedeutet doch in unserer derzeitigen sicherheitspolitischen Lage, dass das Staatenbündnis eigene strategische Vorstellungen hat und sich selbst verteidigen können muss. Die EU hat bisher keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, geschweige denn gemeinsame strategische Vorstellungen. Und eine eigenständige Verteidigung kann die EU schon aufgrund der militärischen Einsatzfähigkeiten der EU-Mitgliedstaaten, aber hauptsächlich auch wegen der minimalen nuklearen Fähigkeiten nicht gewährleisten. USA und Russland verfügen über jeweils 1.500 bis 2.000 Nuklearsprengköpfe. Darüber hinaus haben die USA die größten Interventionsfähigkeiten weltweit. Als einziges EU-Mitglied verfügt Frankreich im Vergleich mit Russland über marginale Nuklearfähigkeiten und mit einem Flugzeugträger sowie vier nuklearfähigen U-Booten und knapp 300 verfügbaren Atomsprengköpfen über insgesamt stark eingeschränkte Verteidigungs- und Interventionsfähigkeiten. Und damit will Macron einen Nuklearschirm über die EU spannen können? Im Vergleich zu Russland ist die Grande Nation also ein nuklearer Zwerg und Großbritannien wird sich einer europäischen „strategischen Autonomie“ nicht anschließen. Insofern ist schon der Begriff „strategische Autonomie“ irreführend und illusorisch.

Die französische Regierung hat angekündigt, dass sie für den Zeitraum 2019 bis 2023 mit Unterhalts- und Modernisierungskosten für die Force de dissuasion nucléaire in Höhe von 25 Milliarden Euro rechnet. Nukleare Fähigkeiten kosten halt sehr viel. Frankreich wünscht die Beteiligung von europäischen Partnern an diesen Kosten, allerdings mit rein französischer Verfügungsgewalt über diese Force de dissuasion nucléaire, als Kern einer anzustrebenden europäischen Atommacht. Das ist aber ein Langzeitprojekt mit fraglicher Realisierungsmöglichkeit. Denn die anderen EU-Staaten haben große Kraftanstrengungen zu leisten, um die eingeschränkte Einsatzfähigkeit ihrer Streitkräfte wiederherzustellen. Deutschland zum Beispiel braucht bis 2031, um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr für die Landes- und Bündnisverteidigung wiederherzustellen – wenn die mittel- und langfristige Finanzplanung nach Corona die Realisierung noch zulässt. Anderen EU-Mitgliedstaaten geht es nicht viel besser. Da bleiben keine Mittel für eine Beteiligung an einer Force de dissuasion nucléaire, als Kern einer anzustrebenden europäischen Atommacht.

Und Frankreich selbst ist in keinem guten Zustand. Als französischer Präsident hat Macron bisher innen-, sozial- und wirtschaftspolitisch mehr oder weniger versagt. Davon – und vom schlechten strukturellen und wirtschaftlichen Zustand Frankreichs und von der unzureichenden Einsatzfähigkeit der Grande Armée - will er ablenken, wenn er zu stark überspitzt sagt: „Was wir gerade erleben, ist für mich der Hirntod der NATO.“ Darüber hinaus braucht das hochverschuldete Frankreich dringend Geld. Im Zusammenhang mit den EU-Corona-Hilfen in Höhe von 750 Milliarden Euro ist Frankreich nach Italien und Spanien der EU-Mitgliedsstaat, der die dritthöchste „Zuwendung“ also Schenkung bekommt. Dabei haben alle drei Staaten schon vor Ausbruch von Corona gegen den EU-Strukturpakt verstoßen und sind für ihre schlechte wirtschaftliche Lage selbst verantwortlich! In dieser prekären finanziellen und wirtschaftlichen Situation der Gesamt-EU von einer anzustrebenden europäischen Atommacht zu sprechen, ist mehr als gewagt!

Außerdem leidet die EU unter genug selbstherrlichen Nationalisten, wie den politischen Führern der Visegrád-Staaten, da muss nicht noch ein französischer Präsident die Spaltung und damit die Handlungsunfähigkeit der EU verstärken. Ist denn der Präsident der „Grande Nation“ so realitätsfern, dass er nicht erkennt, dass kein osteuropäisches EU- und NATO Mitglied an die hinreichende Abschreckungsfähigkeit und Einsatzbereitschaft europäischer Streitkräfte gegen die ständig erkennbare Aggressivität Russlands glaubt? Kann der französische Präsident intellektuell nicht einordnen, dass seine nicht lange zurückliegenden unabgesprochenen, liebedienerischen Avancen gegenüber Putin die EU- und die NATO-Solidarität gegenüber dem Ukraine-Aggressor Russland massiv beeinträchtigen? Die EU-Staaten, die auch NATO-Mitglieder sind, wissen sehr wohl – offenbar ausgenommen Frankreich - dass die Sicherheit Europas auf nicht absehbare Zeit von den militärischen und insbesondere von den nuklearen Fähigkeiten der USA abhängig ist.

Und da schreibt die Kommentatorin Welter im Deutschlandfunk: „ … aber bei dem Vorwurf stehen zu bleiben, Macron gebe sich Illusionen hin, das grenzt an Fantasielosigkeit.“ Dieser Vorwurf von „Fantasielosigkeit“ zeugt von einer gefährlichen Ignoranz! Denn die Sicherheit der Europäischen Union wird nicht „fantasievoll“ gewährleistet werden können, sondern nur durch eine an der realen sicherheitspolitischen Lage und an den gegebenen sicherheits- und finanzpolitischen Realisierungsmöglichkeiten orientierte, verantwortungs-bewusste Politik!

Die NATO ist als Verteidigungsorganisation strukturell handlungsfähig und wird als Partner in der Weltpolitik ernst genommen. Da muss sich die EU nur als wirklicher Partner stärker sowie verantwortungsbewusster einbringen und könnte so gemeinsam mit der NATO sicherheitspolitische Verantwortung Europas in der Welt wahrnehmen. Jegliche kostspielige Konkurrenz zur NATO aufgrund von aufwändigen Doppelstrukturen, Kompetenzüberschneidungen und unübersichtlicher Befehlswege, jegliche politische Relativierung der Bedeutung des transatlantischen Bündnisses ist in der aktuellen, nicht einfachen sicherheitspolitischen Lage von Übel und der Sicherheit Europas abträglich.

Solange die „Europäische Verteidigungsunion“ lediglich eine langfristige, gute Idee ist, gibt es ein sicheres Europa angesichts der sicherheitspolitischen Lage auf absehbare Zeit nur mit der NATO und gegebenenfalls durch Rückgriff auf die nuklearen Fähigkeiten der USA.

(22.11.2020)

 

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