Hans-Heinrich Dieter

Europäischer Nuklearschirm   (14.01.2024)

 

Dank der NATO und der EU lebten wir seit Jahrzehnten in Frieden, Freiheit und Wohlstand. Der verbrecherische Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat das naiv-pazifistisch orientierte Deutschland veranlasst, sicherheitspolitisch umzudenken. Mit dem erneuten Krieg in Europa wurde eine „Zeitenwende“ eingeläutet. Und wir mussten erkennen, dass wir nach der Wiedervereinigung die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie sträflich vernachlässigt haben und unsere Streitkräfte für eine Landes- und Bündnisverteidigung nach NATO-Kriterien nicht mehr einsatzfähig sind. Mit einem 100 Milliarden Sondervermögen und einem am 2-Prozent-Ziel der NATO ausgerichteten und verstetigten Verteidigungshaushalt soll die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr bis 2031 wiederhergestellt werden. Deutschland kann aber auch in Zukunft wohl nur im Rahmen der NATO oder von einer mit der NATO sicherheitspolitisch verzahnten EU verteidigt werden.

Der Neo-Stalinist Putin strebt offensichtlich die Wiederherstellung der Sowjet-Union an und es gibt keine Anzeichen, dass er den Krieg gegen die Ukraine schnell beenden wird. Die osteuropäischen Staaten haben nachvollziehbare Gründe, die russische Bedrohung ernst zu nehmen - und die NATO tut das auch. Und der Rest Europas kann sich durchaus ebenfalls durch Russland bedroht fühlen, denn Putin führt jetzt schon einen politischen Krieg gegen die westlichen Demokratien, um sie zu destabilisieren und zu spalten. Die russischen Cyber-Attacken gegen Staaten unserer Wertegemeinschaft sind eine Vorstufe dieser hybriden Kriegführung. Und die Wirkung solch hybrider Kriegführung wird verschärft durch die Verfügbarkeit starker konventioneller Streitkräfte und die große Anzahl von Kernwaffen, die Russland gegen Europa vorhält. Dieses russische Potential erfordert für die Friedenserhaltung eine glaubhafte Abschreckung durch die NATO und amerikanische Sicherheitsgarantien durch einen leistungsstarken US-Nuklearschirm über Europa. Ohne diesen US-Nuklearschirm könnte sich Europa gegen einen russischen Angriff derzeit nicht erfolgreich verteidigen!

2024 wird daher außen- und sicherheitspolitisch ein Jahr werden, das die Sicherheitsarchitektur Europas deutlich verändern könnte. Die begonnenen Vorwahlen in den USA für die zukünftige Präsidentschaft zeigen, dass Trump der nächste US-Präsident werden könnte, der mit seinen Republikanern eine „America first-Politik“ betreiben würde und sich von der Sicherheitsgarantie mit dem Nuklearschirm über Europa verabschieden könnte. Solche Überlegungen haben in Europa eine Diskussion um einen „europäischen Nuklearschirm“ ausgelöst – natürlich ohne die damit verbundenen Probleme und Herausforderungen aufzuzeigen. Denn eine rein europäische Verteidigungsfähigkeit einschließlich einer europäischen Atomwaffenkapazität hätte erheblich Auswirkungen auf die NATO und auf die Institutionen der Europäischen Union. Und wenn die USA sich auch nur teilweise aus der NATO zurückziehen und sich mit Schwerpunkt auf den Pazifik konzentrieren würden, müssten alle europäischen NATO-Staaten ihre konventionellen Streitkräfte mit erheblichem finanziellem Aufwand deutlich verstärken, um sich gegen einen russischen Angriff verteidigen zu können – denn nicht nur die Bundeswehr wurde „kaputtgespart“.

Der Vergleich der verfügbaren Nuklearwaffen macht die Lage weitaus problematischer. Die USA verfügen über etwa 2000 vorwiegend strategisch einsetzbare Kernwaffen, Russland hält mit ca. 1550 strategischen Sprengköpfen dagegen. Träger russischer Kernwaffen sind Marschflugkörper und ballistische Raketen, die von Land, von U-Booten und Kriegsschiffen sowie von Flugzeugen aus gestartet werden und Reichweiten von 400 bis 2500 Kilometern haben. Die USA haben einen Teil ihrer Kernwaffen in Europa stationiert, die auch von europäischen Streitkräften im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ eingesetzt werden können. Insgesamt entsteht so eine glaubhafte und bisher erfolgreiche Abschreckung des zunehmend aggressiven „Feindes“ Russland.

Wenn sich nun die USA unter einem nächsten Präsidenten Trump aus der NATO zurückziehen würden, stünde Europa ziemlich „blank“ da. Denn dann ist davon auszugehen, dass auch die in Europa stationierten US-Kernwaffen abgezogen würden und dann blieben der EU lediglich die etwa 280 Kernwaffen Frankreichs. Im Rahmen der französischen, nationalistischen Abschreckungsdoktrin dienen diese allerdings allein der Abschreckung vor einer existenziellen Bedrohung Frankreichs. Und deswegen kann man nicht davon ausgehen, dass Frankreich seine Kernwaffen „europäisieren“ würde. Außerdem wären 280 europäische Kernwaffen nicht ausreichend, um Russland vor einem Invasionskrieg gegen Teile Europas mithilfe seiner nuklearen Eskalationskapazität abzuschrecken.

Wenn Europa also eine Verteidigungsfähigkeit gegen Russland ohne die bisherige Führungsmacht des transatlantischen Bündnisses herstellen muss, dann gelingt das nicht mit der EU. Denn für eine „europäische strategische Autonomie“ braucht es eine handlungsfähige EU mit der Befähigung zur Machtausübung. Und zur europäischen strategischen Autonomie bräuchte die EU eine gemeinsame Außenpolitik und Mitgliedstaaten mit einsatzbereiten Streitkräften. Die Europäische Union, und damit auch Europa, ist aber derzeit in einem bedauernswerten, ja geradezu mitleiderregenden Zustand. Eine europäische strategische Autonomie muss daher von der NATO zusammen mit der EU aufgebaut werden, weil die NATO eine internationale Struktur von Hauptquartieren und Fähigkeiten hat, die auch ohne die USA funktionieren kann. Das setzt allerdings voraus, dass die Europäer zu erheblichen Erhöhungen ihrer Verteidigungsanstrengungen bereit sind. Angesichts der Tatsache, dass Russland 140 Millionen Menschen zählt und ein Bruttoinlandprodukt (BIP) von 1,2 Billionen US-Dollar aufweist, sollten die EU-Staaten mit 450 Millionen Menschen und einem BIP von 14,5 Billionen Euro in die Lage versetzt werden können, sich selbst zu verteidigen.

Solche strukturellen Maßnahmen lösen allerdings noch nicht das Problem einer glaubhaften nuklearen Abschreckung Russlands nach einem Wegfall der US-Nukleargarantie für Europa. Das Problem könnte dadurch gelöst werden, dass entweder die europäischen Nuklearmächte Großbritannien und Frankreich innerhalb der NATO die Nukleargarantie übernehmen oder die EU in einen „europäischen Bundesstaat“ weiterentwickelt wird, der mit der NATO außen- und sicherheitspolitisch eng zusammenarbeitet.

Die Übernahme der Nukleargarantie für Europa durch die Nuklearmächte Großbritannien und Frankreich hätte den Vorteil, dass in beiden Staaten die Strukturen und die Trägermittel für den Einsatz von Nuklearwaffen bereits vorhanden sind, aber das nukleare Potential natürlich mit erheblicher Unterstützung der europäischen Nato-Mitgliedstaaten qualitativ und quantitativ aufgerüstet werden müsste. Der Nachteil dieser Lösung ist allerdings, dass Großbritannien kein EU-Mitglied mehr ist und sehr eng mit den USA zusammenarbeitet, und dass Frankreich innenpolitisch nicht sehr stabil und nationalistisch eingestellt ist – wir erinnern uns, dass Macron die NATO schon mal als „hirntot“ bezeichnet hat. Darunter könnte die Glaubwürdigkeit einer französischen Teil-Nukleargarantie für Europa stark leiden!

Eine zukunftsfähige Lösung wäre die Entwicklung eines „europäischen Bundesstaates“. Ein solcher Bundesstaat müsste eine eigene Verfassung und einen gewählten Präsidenten haben, der später auch die Entscheidungskompetenz für den Einsatz von Nuklearwaffen haben muss. Ein Bundes-Kabinett hätte außen- und sicherheitspolitische Kompetenzen: Verteidigung Europas, Abwehr von Terrorismus sowie hybriden Bedrohungen und Sicherung der Außengrenzen. Kontrolliert würde diese Regierung durch ein Parlament und einen Senat. Dieser Bundesstaat müsste seine eigenen Streitkräfte aufstellen, die sich aus den Streitkräften der Mitgliedstaaten bildeten und von einem gemeinsamen Generalstab geführt würden. Dieser europäische Bundesstaat sollte eng mit der NATO verzahnt werden. Diese Weiterentwicklung der EU hätte auch den Vorteil, dass man mit einer tiefer integrierten Europäischen Union untaugliche, autokratische und nationalistische Mitglieder wie zum Beispiel Ungarn ausschließen könnte.

Dieser Bundesstaat müsste die Wirtschaftsleistung und die Bevölkerungszahl Russlands deutlich übertreffen. Und er müsste eine konventionelle Streitmacht schaffen, die im Rahmen der NATO die Verteidigung der Ostgrenzen weitgehend allein sichern könnte. Der Bundesstaat müsste die Kompetenz haben, eine eigene Nuklearstreitmacht aufzubauen. Dazu müssten mindestens Deutschland, Frankreich, Italien und Polen sowie weitere langjährige Mitgliedstaaten der EU bereit sein, auf Teile ihrer Souveränität zu verzichten und sich solidarisch in diese „Vereinigten Staaten von Europa“ einzubringen, um die Freiheit, Sicherheit und die territoriale Integrität des europäischen Bundesstaates zu gewährleisten. Eine solche Bereitschaft ist derzeit nicht wirklich zu erkennen. Und darüber hinaus gibt es innerhalb der EU keinen nuklearen Konsens, sondern vielmehr einen massiven Dissens über die Legitimität nuklearer Abschreckung. Daher wird es noch auf lange Zeit keine „Europäische Verteidigungsunion“ und auch keine Abschreckung Russlands durch einen „europäischen Nuklearschirm“ geben.

Europa kann daher auch in Zukunft wohl nur im Rahmen der NATO oder später von einer mit der NATO sicherheitspolitisch verzahnten EU verteidigt werden. Sollten die USA sich aus Europa zurückziehen, muss die EU mit der NATO alle Anstrengungen unternehmen, um die Verteidigungsfähigkeit sehr schnell wiederherzustellen und glaubhafte nukleare Abschreckungskapazitäten aufzubauen.

Nur eine mit der NATO eng verzahnte EU kann auf Dauer unsere Sicherheit gewährleisten!

(14.01.2024)

 

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