Hans-Heinrich Dieter

Europäische Abschreckung?   (25.07.2022)

 

Der Abgeordnete Schäuble wurde am Wochenende von Jaques Schuster, WAMS, zur Zukunft der EU befragt und vertrat dabei „abenteuerliche“ Ansichten. Er meinte angesichts der sicherheitspolitischen „Zeitenwende“: es brauche „auch auf europäischer Ebene die nukleare Abschreckung. Ãœber diese verfügt Frankreich. Aus ureigenem Interesse müssen wir Deutschen im Gegenzug für eine gemeinsame Nuklearabschreckung einen finanziellen Beitrag für die französische Nuklearmacht leisten. Das heißt: Frankreich hat einen vernünftigen Anspruch darauf, dass wir für diese Abschreckung einen größeren Teil bezahlen“. Und weiter: „Gleichzeitig müssen wir mit Paris in eine verstärkte strategische Planung eintreten. … Jedenfalls ist die europäische Verteidigungskapazität ohne die nukleare Dimension nicht denkbar. Was Frankreich dabei leisten muss, ist, dass sich das alles in die NATO einfügen muss.“ Die SPD findet den Vorschlag „untauglich“ und die Grünen sind „entsetzt“, dieser Gefühlslage kann man auch als liberal-konservativer Bürger beipflichten!

Schäuble berücksichtigt bei seinen „Visionen“ die immer noch desolate EU in keiner Weise. Die EU ist strukturell nur sehr eingeschränkt handlungsfähig und es fehlt eine gemeinsam definierte Außen- und Sicherheitspolitik als Rahmenbedingung einer erfolgreichen europäischen Außenpolitik. Die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit ist zudem durch die erforderliche Einstimmigkeit bei Entscheidungen und die sich verstärkenden nationalistischen und unsolidarischen Tendenzen einiger Mitgliedstaaten sehr stark eingeschränkt. Angesichts dieser in vielerlei Hinsicht heterogenen und bei zahlreichen Themen heillos zerstrittenen Europäischen Union von einer nuklearen Abschreckung auf europäischer Ebene und von einer richtigen europäischen Armee zu reden, die die Mitgliedstaaten auch gegen Russland verteidigen können soll, spricht nicht für Sachkenntnis und Realitätssinn - und ist mehr Illusion als Vision!

Außerdem überschätzt Schäuble die sicherheitspolitischen Möglichkeiten und Fähigkeiten Frankreichs. La Grande Nation hat mit Macron einen vollmundigen Präsidenten, der aber hinsichtlich der Reform der französischen Wirtschaftsstruktur bisher sehr wenig erreicht hat – Frankreich gehört zu den hochverschuldeten südeuropäischen Staaten der EU. Und der wiedergewählte Macron wird seine politischen Vorstellungen gegen die starken sozialistischen und nationalistischen parlamentarischen Vertretungen nur teilweise durchsetzen können – man kann in Macron durchaus eine „lame duck“ erkennen. Und die euphorischen und gut klingenden Vorschläge, die Macron immer mal wieder macht, sind stets nur mit sehr großem Engagement anderer Mitgliedstaaten – allen voran Deutschland - zu realisieren. Darüber hinaus verfolgt Frankreich in der Außen- und Sicherheitspolitik erkennbar stark Eigeninteressen. La Grande Armee verfügt zwar über Nuklear-Fähigkeiten und auch über maritime Interventionsmöglichkeiten, aber nur von regionaler Qualität und Frankreich hat immer wieder sehr deutlich gemacht, dass es allein und souverän über einen möglichen Atomwaffeneinsatz entscheiden will. Und warum sollte Deutschland in französische Fähigkeiten investieren, auf die es keinen Einfluss hat? Es wird absehbar keine „gemeinsame Nuklearabschreckung“ mit Frankreich geben. Darüber hinaus sind die französischen Nuklearfähigkeiten zu gering, um glaubhaft abschrecken zu können, und sie sind meilenweit davon entfernt, Europa schützen zu können.

Immerhin fügt Schäuble noch hinzu, dass Frankreich „das alles in die NATO einfügen muss.“ Der alternde Bundestagsabgeordnete hat wohl vergessen, dass Macron in einer nationalistischen Manier vor kurzer Zeit der NATO den „Hirntod“ unterstellt und die NATO auch heute keinen „Zugriff“ auf französische Nuklearfähigkeiten hat. Außerdem müssen keine europäischen Fähigkeiten in die NATO eingefügt werden, denn die Mehrheit der EU-Mitglieder sind auch NATO-Staaten. Und schon daraus ergibt sich das Erfordernis einer engen Zusammenarbeit, wenn die EU und die NATO sich auch global einbringen wollen.

Schon aufgrund des durch die russische Annexion der Krim verursachten „neuen Kalten Krieges“ haben die NATO-Mitgliedsstaaten begonnen, ihre Bündnis-Verteidigungsfähigkeit gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages zu verbessern oder wiederherzustellen. Dem Sicherheitsbedürfnis Polens und der baltischen Staaten entsprechend hat die NATO dort zeitweilig und rotierend Kampftruppen stationiert und die Kontrolle des Luftraumes weitgehend übernommen. Auf die Herausforderungen von Cyber-Bedrohungen sowie verdeckter und hybrider Kriegsführung stellt sich die NATO zunehmend ein und hat insbesondere ihre Fähigkeiten in der Cyber-Kriegsführung inzwischen verbessert. Das Militärbündnis muss allerdings noch ausreichende Fähigkeiten entwickeln, um sich an internationalen Anti-Terror-Einsätzen beteiligen zu können.

Und auch der Aufstieg Chinas zu einer „durchsetzungsstarken Weltmacht“ - die zweite Hauptursache für die Wiederkehr eines „geopolitischen Wettbewerbs“ und einer multipolaren „Systemrivalität“ - ist bei der Weiterentwicklung zu berücksichtigen. Denn daraus ergibt sich eine neue geopolitische Sicherheits- und Bedrohungslage, auf die sich die NATO mit ihren Mitgliedern auf der Grundlage des neuen Strategischen Konzeptes gemeinsam einstellen muss. Das erfordert auch eine Beteiligung der NATO an der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit im pazifischen Raum. Deswegen müssen die europäischen NATO-Mitgliedstaaten alle Anstrengungen unternehmen, um die USA mit ihrer nuklearen Zweitschlagskapazität im Transatlantischen Bündnis zu halten, denn nur die NATO mit den militärischen Fähigkeiten der USA kann mittelfristig die Sicherheit Europas gewährleisten. Und nur unter dem Schutzschirm der nuklearen Zweitschlagskapazität der USA kann die Weiterentwicklung der NATO – bis in den pazifischen Raum hinein - gelingen.

Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg haben die EU und die NATO unter Beweis gestellt, dass die Zusammenarbeit einer geschlossen außenpolitisch handelnden und einer geeinten, sicherheitspolitisch agierenden NATO unter dem nuklearen Schutzschirm der USA Russland glaubhaft abschrecken können. Diese Zusammenarbeit muss verstärkt werden, ohne teure und überflüssige Doppelstrukturen!

Das Denken in Kategorien eines deutsch-französischen EU-Motors der ggf. durch polnische Bauteile leistungsfähiger werden soll, ist kurzsichtig. Denn nur mit werteorientierter, konsequenter, multilateral ausgerichteter und gemeinsamer Politik wird eine EU-NATO-Kooperation - zusammen mit den USA – Erfolg haben und international wieder ernst genommen werden!

Und Deutschland muss kraftvoll versuchen, zur außen- und sicherheitspolitischen Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit, sowohl der EU als auch der NATO, beizutragen.

(25.07.2022)

 

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