Hans-Heinrich Dieter

Afghanistan nach 2017   (04.08.2017)

 

Seit 2001 sind internationale Truppen in Afghanistan im Einsatz. Aus einer Mission gegen Al Qaida ist ein langer und verlustreicher Bürgerkriegseinsatz geworden. Und trotz massiver militärischer Unterstützung, umfangreicher Hilfestellungen für gute Regierungsführung, Milliarden-Investitionen, Materiallieferungen und intensiver Ausbildungsanstrengungen ist die korrupte Regierung nicht fähig, Afghanistan politisch zu kontrollieren, und sind die afghanischen Sicherheitskräfte weiterhin nicht in der Lage, das ganze Land eigenständig zu sichern. Ende 2016 kontrollierten Afghanistans Soldaten und Polizisten weniger als zwei Drittel des Landes. Im Jahr davor hatten sie noch über rund 70 Prozent des Landes die Oberhand. Und die Lage der Zivilbevölkerung verschlechtert sich weiter. Die UN zählten in der ersten Hälfte 2017 rund 1.700 Tote und etwa 3.600 Verletzte, überwiegend durch Angriffe von Taliban und anderen islamistischen Gruppen, Milizen und organisierte Kriminalität - die meisten der Opfer sind Zivilisten.

Derzeit sind die Verbündeten in der Ausbildungsmission „Resolute Support“ mit 13.500 Soldaten aus 38 Staaten im Einsatz. Sie greifen nicht selbst in Kämpfe ein, sondern sollen die afghanischen Sicherheitskräfte ausbilden, anleiten und unterstützen. Lediglich die US-Streitkräfte leisten Kampfunterstützung oder verstärken afghanische Operationen mit US-Spezialkräften. Mit 980 Mann ist Deutschland zwar zweitgrößter Truppensteller von "Resolute Support", die weitaus meisten Berater, nämlich rund 7.000, und das weitaus meiste Geld tragen die USA zur Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte bei. Die Sicherheit der Bevölkerung konnte dadurch nicht verbessert und die Lage Afghanistans nicht stabilisiert werden. Deswegen sprechen Fachleute auch von einer Milliarden-Fehlinvestition.

Im Juni 2017 hat nun NATO-Generalsekretär Stoltenberg die Verstärkung der internationalen Truppen für die Ausbildungsmission in Afghanistan um mehrere tausend Soldaten bekanntgegeben. Mit dieser Maßnahme will man einen Beitrag leisten, um die islamistischen Taliban an den Verhandlungstisch zu zwingen. Doch wie will man die erfolgreichen Taliban zu irgendetwas zwingen, wenn man sie nicht massiv bekämpft, in ihrer Kampfkraft schwächt und unter Druck setzt? Die Verstärkung der Ausbildungsmission durch die vermeintlichen Besatzer hat eher einen gegenteiligen Effekt, denn die Taliban haben erklärt, dass sie nur verhandeln, wenn der letzte „Besatzer“ das Land verlassen hat.

Am Montag haben die Terroristen vom Islamischer Staat (IS) einen Anschlag auf die irakische Botschaft in der afghanischen Hauptstadt Kabul verübt, beide Angreifer wurden getötet. Am Dienstag haben zwei Attentäter -wohl des IS - in Herat im Westen des Landes eine schiitische Moschee angegriffen und mindestens 30 Gläubige getötet, darunter mehrere Kinder. Am Mittwoch hat es bei einem Selbstmordanschlag mit einem Sprengstoff-Lkw auf einen NATO-Konvoi in der südafghanischen Provinz Kandahar nach Angaben der NATO-Mission „Resolute Support“ zwei US-Opfer gegeben. Am Donnerstag wurden weitere kleinere Anschläge verübt. Das zeigt schlaglichtartig die Breite der Handlungsmöglichkeiten der Taliban und des IS.

Unter dieser sich verschlechternden Sicherheitslage leidet natürlich auch der zivile Aufbau, trotz unübersehbarer Erfolge: ob Gesundheitsversorgung, Lebenserwartung oder Schülerzahl - die Lebensumstände der Afghanen haben sich durchaus verbessert. Eine afghanische Abgeordnete stellt fest: „Es ist viel Gutes geschehen in Afghanistan. Die Verfassung, demokratische Einrichtungen wie das Parlament, der Zugang von Frauen zu Schulen, zu Arbeit, zur Zivilgesellschaft.“

Doch die gesellschaftliche Realität sieht weit schlechter aus. Die Demokratie ist in Misskredit geraten, weil alle Wahlen von Manipulationen überschattet waren. Die Regierung kontrolliert nur wirklich Kabul.  Eine zerstrittene und auch korrupte Regierung ist mit sich selbst beschäftigt, und natürlich nicht in der Lage, die landesweite Korruption zu bekämpfen, für Rechtssicherheit zu sorgen und - trotz massiver Unterstützung - eine funktionsfähige Verwaltung aufzubauen. Eine eigenständige Wirtschaft konnte bisher trotz reicher Bodenschätze nicht entwickelt werden. Der Abzug der internationalen Kampftruppen Ende 2014 hat vielen, auch jüngeren Afghanen den Arbeitsplatz gekostet. Der einzige lukrative Wirtschaftszweig ist heute der Mohnanbau, die Opiumproduktion und der Drogenhandel, doch damit finanzieren sich hauptsächlich die Taliban. Ein funktionsfähiger afghanischer Staat, der überall für Sicherheit sorgen kann, ist nicht entstanden. Weite Teile Afghanistans sind instabil und sie werden es bleiben, denn die muslimische Bevölkerung ist ganz offensichtlich nicht an demokratischen Verhältnissen westlicher Vorstellung interessiert. Man ist mit dem Clan-System aufgewachsen und lebt weiter damit. Darüber hinaus gibt es auch starke islamistische Tendenzen in der Bevölkerung, sonst könnten die Taliban nicht so ungeniert die ländlichen Gebiete dominieren.

Ein erneuter und endgültiger Sieg der Taliban ist trotzdem zwar nicht in Sicht. Eine politische Lösung zeichnet sich derzeit aber auch nicht ab, denn die Taliban haben leistungsfähige Unterstützung. Pakistan gewährte den Taliban in der gesamten Zeit des westlichen Engagements Rückzugsräume, Training, Geld und Waffen, weil die Destabilisierung Afghanistans im strategischen Interesse Pakistans liegt. Versuche des afghanischen Präsidenten Ghani, zusammen mit Pakistan Verhandlungen mit den Taliban zu führen, sind deswegen gescheitert. Und je mehr Erfolge die Taliban haben, desto unwahrscheinlicher wird eine politische Lösung und die personelle Aufstockung der NATO-Mission „Resolute Support“ wird daran nichts ändern. Die Zukunftsaussichten Afghanistans sind daher schlecht!

Pfarrerin Käßmann hat ohne jegliche „Ortskenntnis“ und ohne erkennbares Bemühen, sich über die reale Lage sachkundig zu machen, in ihrer Weihnachtspredigt 2009 mit ihrem oberflächlichen, falschen und unchristlichen Pauschalurteil: „Nichts ist gut in Afghanistan“ unsere Soldaten und ihren Dienst für Deutschland in Afghanistan, aber auch die Leistungen unserer zivilen Aufbauhelfer stark herabgewürdigt. Das haben sie nicht verdient. Denn rund 135.000 deutsche Soldaten waren inzwischen in Afghanistan eingesetzt und haben ihren Auftrag gut ausgeführt, 56 kamen dort ums Leben. Tausende deutsche Entwicklungshelfer und Berater waren in dem Land tätig und haben ihr Bestes versucht. Deswegen war nicht alles schlecht in Afghanistan. Aber man darf die Lage auch nicht schönreden.

Der internationale Einsatz seit 2001, und also auch das deutsche militärische und zivile Engagement, waren nicht vergeblich, aber die Ziele, die man sich seitens der NATO und zum Beispiel mit den Petersberg-Konferenzen gesetzt hat, sind nicht erreicht worden. Der internationale Militäreinsatz hat das Wiedererstarken der Taliban und das Festsetzen der Terrormiliz IS in Afghanistan nicht verhindert. Die Ausbildungsmission „Resolute Support“ bleibt mit den messbaren Ausbildungserfolgen bei den afghanischen Sicherheitskräften weit hinter den Erwartungen zurück. Die jetzt angekündigte personelle Aufstockung wird daran wenig ändern.

Wenn die USA zusammen mit der westlichen Welt eine realistische Lagebeurteilung anstellen, dann müssen sie zu dem Schluss kommen, dass mit dem von Pakistan unterstützten Erstarken der Taliban und den zunehmenden Terroraktivitäten des IS in Afghanistan eine auch für die westliche Welt gefährliche neue Lage entstanden ist, der militärisch effektiv begegnet werden sollte. Dann muss die westliche Welt - möglichst auf der Grundlage eines neuen UN-Beschlusses - ganz neu planen und den Terror am Hindukusch mit aller Macht bekämpfen. Das bedeutet, dass die westliche Welt für einen nicht zu definierenden Zeitraum erneut durchsetzungsfähige Kampftruppen und vor allen Dingen Spezialkräfte einsetzen muss. Wenn wir uns zu einer effektiven Kriegsführung gegen die Taliban und den IS nicht durchringen können, sollten wir die bisher offensichtlich wenig erfolgreiche militärische Beratungsmission spätestens 2018 beenden.

Die internationale Gemeinschaft hat sich bei den Geberkonferenzen von Tokio (2012) und Brüssel (2016) verpflichtet, Afghanistan mindestens bis 2024 in einer so genannten Transformationsdekade im zivilen Bereich zu unterstützen. Denn die Staatengemeinschaft wollte Afghanistan auch nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes ISAF Ende 2014 nicht im Stich lassen. Und beim NATO-Gipfel in Warschau am 08. und 09. Juli 2016 einigten sich die Bündnispartner auf die weitere Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte bis 2020, um diese weiter zu befähigen, die Sicherheitsverantwortung zu übernehmen. Im Gegenzug verpflichtete sich die afghanische Regierung zu Fortschritten bei der Umsetzung der Reformagenda. Da gibt es aber keine Fortschritte.

Wenn man den gewählten politischen Führern in Afghanistan nicht mehr Verantwortung lässt und die Verwendung der Finanzierungsleistungen nicht besser kontrolliert, wird Afghanistan nicht auf die Beine kommen. Afghanistan muss sich endlich selbst helfen und seinen eigenen politischen Weg finden. Dabei muss die westliche Welt politisch und wirtschaftlich weiter unterstützen.

(04.08.2017)

 

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