Hans-Heinrich Dieter

Unsicherheitsfaktor Türkei

 

Der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann hat bei einem Besuch in der Türkei – freilich ohne außenpolitisches Mandat - dafür plädiert, die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei „ernsthaft“ mit dem Ziel einer EU-Vollmitgliedschaft wieder aufzunehmen.

Es ist schon erstaunlich, mit welcher Arroganz Grünen-Politiker wie die Altkommunisten Trittin und Kretschmann Ernsthaftigkeit für sich in Anspruch nehmen. Bevor Kretschmann ohne Zuständigkeit solche Aussagen macht, sollte er doch den am 10. Oktober veröffentlichten Fortschrittsbericht der EU-Kommission zur Kenntnis nehmen, der immerhin inzwischen wieder gewachsene Defizite bei den Themen Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit offenlegt und er sollte diese Defizite ansprechen. Er sollte deutlich machen, dass wir in Europa demokratische, freiheitliche und christliche Wertvorstellungen haben, denen ein EU-Mitglied auch entsprechen muss. Er sollte sich mit der aktuellen Lage im Nahen und Mittleren Osten befassen. Und da spielt die Türkei eine durchaus problematische Rolle.

Nach Schüssen aus Syrien auf türkisches Gebiet haben die türkischen Streitkräfte massiv syrische Stellungen beschossen und bombardiert. Das türkische Parlament hat umgehend mit nationalistischem Gehabe und begleitet von Kriegsrhetorik z.B. des EU-Ministers die Regierung ermächtigt, bei Bedarf in Syrien einzumarschieren. Nach den Vergeltungsschlägen gegen den Nachbarn wurde ein syrisches Verkehrsflugzeug aus Moskau kommend – angeblich mit militärischem Material an Bord - zur Landung in Ankara gezwungen und die Türkei zieht weiterhin Truppen an der Grenze - 250 Panzer und 55 Kampfflugzeuge - zusammen. Dann wurde auch ein syrischer Hubschrauber, der angeblich Rebellen in einer syrischen Stadt nahe der türkischen Grenze bekämpfen wollte, durch ein türkisches Kampfflugzeug in Grenznähe abgedrängt. Inzwischen herrscht gegenseitiges Ãœberflugverbot. Und ein syrisches Angebot zur Grenzkooperation hat die Türkei abgelehnt. Die Lage ist derzeit außerordentlich angespannt und brandgefährlich. In dieser Lage macht die Türkei eine ziemlich eigenständige und nicht mit der NATO abgestimmte Politik, beschimpft die Vereinten Nationen, verweist allerdings auf Artikel 5 des NATO-Vertrages und hofft auf die Unterstützung der USA und der NATO, wenn die Lage eskalieren sollte und es zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit Syrien kommt.

Dabei hat sich die Türkei in der Syrien-Krise bisher sehr schwer getan, mit der etwas großspurig beanspruchten Regionalmachtrolle. Ankara fürchtet sehr zurecht, dass sich die politischen Spannungen mit dem Iran durch türkische Maßnahmen gegen Syrien verschärfen könnten, außerdem sind die syrischen „Schutzmächte“ Russland und Iran nicht nur wichtige Absatzmärkte der türkischen Wirtschaft, sondern auch Lieferanten nicht nur großer Mengen Erdöls sondern auch von zwei Dritteln der türkischen Gas-Einfuhren, auf die die wachsende türkische Wirtschaft dringend angewiesen ist. Darüber hinaus war die Türkei bisher sehr zurückhaltend bei Maßnahmen im Grenzgebiet zu Syrien, weil man eine Weiterung der Kurdenprobleme in der Grenzregion fürchtet. Deswegen waren die türkischen Diskussionen über entmilitarisierte Pufferzonen und über Schutz- oder Flugverbotszonen im Grenzgebiet zu Syrien auch weniger ernst zu nehmen. Erst vor kurzem hat der türkische Staatspräsident Abdullah Gül ein gemeinsames Vorgehen der Staaten der Region in enger Zusammenarbeit mit der Arabischen Liga gefordert, weil „nichtregionale Lösungen aus der Ferne“ für die Türkei „nicht brauchbar“ seien. Bisher ist die Türkei der Verantwortung, die aus der selbst beanspruchten Regionalmachtrolle erwächst, nicht gerecht geworden und provoziert inzwischen möglicherweise durch seine Politik „nichtregionale Lösungen aus der Ferne“

Sowohl Ankara als auch Damaskus hantieren trotzdem derzeit besorgniserregend mit Pulverfässern und Lunten. Das Säbelrasseln im Vorderen Orient betrifft aber nicht irgendeinen regionalen Grenzkonflikt, sondern eine Auseinandersetzung mit erheblichen internationalen Auswirkungen. Die USA und die westliche Verteidigungsallianz, die der Türkei im Bündnisfall beistehen müssten, sind ziemlich unmittelbar betroffen. Die Situation schreit nach einer diplomatischen Lösung, um einen Krieg zu verhindern. Dem sollte auch die türkische Politik entsprechen.

Die Türkei will sicher keinen bewaffneten Konflikt mit Syrien, denn ein solcher Krieg wäre mit immensen Kosten jeglicher Art verbunden. Die USA, die EU, die NATO und der Sondergesandte Brahimi setzen auf eine diplomatische Lösung und sollte es zu einem Krieg Türkei/Syrien kommen, dann ist es durchaus zweifelhaft, dass sich die USA und die NATO mit allen verfügbaren Mitteln engagieren. Jegliches Zündeln und jeglicher Alleingang verbieten sich deswegen für die Türkei.

Die Regionalmacht Türkei allerdings hat aufgrund der wirtschaftlichen Erfolge ein sehr starkes Selbstbewusstsein entwickelt, das sich häufig nationalistisch äußert, das bei starken Kräften in der Türkei die Bereitschaft zum EU-Beitritt zum Erliegen gebracht und zum Nachlassen bei den Anstrengungen um das Erfüllen von EU-Beitrittsnormen geführt hat.
Die Europäische Union hat derzeit erhebliche Probleme mit der Finanz- und Schuldenkrise. Die EU muss sich reformieren und tragfähige Grundlagen für eine Wirtschafts- und Fiskalunion schaffen. Die EU muss sich weiterentwickeln, Renationalisierungstendenzen einiger Mitgliedstaaten entgegenwirken und zu einer tieferen Integration der Mitglieder finden. In einer solch schwierigen politischen Phase kann sich die EU nur um Mitglieder erweitern, die die Kriterien in vollem Umfang erfüllen und die bereit sind, sich vorbehaltlos in die Europäische Union zu integrieren. Selbst wenn die Türkei die formalen Beitrittskriterien erfüllen würde, wäre sie in der derzeitigen Phase eine starke Belastung. Mit den jetzt offengelegten Defiziten bei den Themen Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit verbietet sich eine baldige EU-Mitgliedschaft. Das bedeutet nicht, dass die EU keine Anstrengungen unternehmen sollte, die in geopolitischer und wirtschaftlicher Sicht wichtige Türkei möglichst dicht an der Seite Europas zu halten, um gefährliche türkische Alleingänge in der krisengeschüttelten Region des Nahen Ostens nach Kräften einzuschränken.

 

(17.10.2012)

 

 

nach oben

 

zurück zur Seite Klare Worte