Hans-Heinrich Dieter

Ukraine in die EU?   (03.03.2022)

 

In der Ukraine-Krise zeigt sich die EU geschlossen wie noch nie und erscheint deswegen handlungsfähig wie selten zuvor. Darüber hinaus muss die Lage der Europäischen Union nüchtern, sachlich begründet und realitätspolitisch orientiert leider als desolat bezeichnet werden.

Und nun steht die ukrainische Forderung nach einer baldigen EU-Mitgliedschaft im Raum und muss im Zusammenhang mit der derzeitigen Erweiterungspolitik und -lage sowie unter Berücksichtigung der nicht absehbaren Kriegssituation mit Russland diskutiert und entschieden werden. Wichtig ist, dass die EU dabei zu einer realitätsnahen und ehrlichen Erweiterungspolitik findet!

Die EU hat bereits viele untaugliche Mitglieder. Polen und Ungarn haben Rechtsstaatlichkeitsprobleme und verhalten sich unsolidarisch. Bulgarien und Rumänien wurden als Mitglieder aufgenommen, obwohl sie die Voraussetzungen nicht erfüllten. Griechenland hat sich den Beitritt zum Euro erschwindelt etc. etc. Das alles hat zu einer überdehnten und mehrfach gespaltenen EU geführt, die strukturell nicht handlungsfähig ist!

In diesem Zustand und unter solchen politischen Rahmenbedingungen plant die EU, der Türkei sowie Albanien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina bis 2027 Finanzhilfen – als „Heranführungshilfen“ - in Höhe von knapp 14,2 Milliarden Euro zu zahlen. Das ist Verschwendung von EU-Geldern!

Denn wir brauchen keine erweiterte Europäische Union, sondern eine solidarische, überlebensfähige, handlungsstarke und außenpolitisch glaubwürdige EU. Das erfordert aber weniger euphorische Reden zur Weiterentwicklung auf der Basis der derzeitigen Struktur, sondern echte Struktur-Reformen, um die EU wirklich handlungsfähig zu machen.

Und deswegen sollte die EU endlich zu dieser realitätsnahen sowie ehrlichen Erweiterungspolitik finden und angesichts der Entwicklung der Türkei hin zu einem autokratischen Präsidialsystem die Beitrittsverhandlungen mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft endlich beenden und die EU-Zahlungen an die Türkei für Beitrittshilfen und Strukturentwicklung sofort einstellen. An die Stelle des Beitrittsprozesses sollte die Erarbeitung eines Vertrages treten, der die zukünftige politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem für Europa durchaus wichtigen Pufferstaat zu Asien und der arabischen Welt grundlegend regelt.

Ein solches Verfahren muss auch bei anderen Beitrittskandidaten - wie den Westbalkan-Staaten - angewandt werden, die aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen absehbar keine realistische Chance haben, mittelfristig Vollmitglieder der EU zu werden. (Und wir sollten uns wirklich nicht mit so russophilen und NATO-feindlichen Ländern wie Serbien belasten!) Ein solches Verfahren ist außerdem ehrlicher, erspart der jeweiligen Bevölkerung Enttäuschungen und ermöglicht sehr viel früher eine für beide Seiten fruchtbringende Zusammenarbeit.

Vor diesem Hintergrund sollte die EU Verhandlungen führen, ohne falsche Hoffnungen zu wecken. Und die Hoffnungen ufern jetzt schon aus, denn der ukrainische Präsident Selenskij hat bereits einen Antrag zur Aufnahme in die EU unterzeichnet und vor dem Europaparlament für ein spezielles, beschleunigtes Verfahren geworben. Aber ein solcher „Expressbeitritt“ wäre der vollkommen falsche Weg und würde außerdem auch nicht die Zustimmung der 27 EU-Mitgliedsländer finden.

Besser ist es auf der Grundlage der bisherigen Zusammenarbeit aufzubauen. Am 14. Juni 1994 unterzeichneten die Europäische Union und die Ukraine ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA), das das 1989 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Sowjetunion geschlossene Handels- und Kooperationsabkommen ersetzte. Am 1. Januar 2008 sind Abkommen zwischen der EU und der Ukraine über Visaerleichterungen und Rücknahme von Personen, die sich illegal aufhalten, in Kraft getreten. Im September 2014 verabschieden die Parlamente der Ukraine und der Europäischen Union (EU) das Assoziierungsabkommen, das zum 1. Januar 2016 in Kraft trat. Die Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine ist also aktiv und die wirtschaftliche Unterstützung der EU bemerkenswert.

Deswegen sollte die EU in der gegenwärtigen Lage der Ukraine lediglich eine Beitrittsperspektive eröffnen und ihr einen Kandidatenstatus verleihen, der weitreichende politische und wirtschaftliche Reformen erfordert, und die Rechtsstaatlichkeit sowie die erfolgreiche Bekämpfung der ausgeuferten Korruption in der Ukraine voraussetzt. Vor einer Vollmitgliedschaft muss die Ukraine alle Standards unserer europäischen Wertegemeinschaft erfüllen! Und in diesem Zusammenhang muss die EU auch bei Beitrittsgesuchen, etwa von Georgien oder Moldau, gleiches Maß und Methode geltend machen.

Die Wertegemeinschaft EU muss außenpolitisch glaubwürdiger und handlungsfähiger werden und das geht nur mit „wertvollen“ und geeigneten Mitgliedern – da darf es keine Abstriche geben!

(03.03.2022)

 

 

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