Hans-Heinrich Dieter

Postfaktische Merkel   (22.11.2016)

 

Postfaktisch (post truth) ist das internationale Wort des Jahres. Das Adjektiv beschreibt Rahmenbedingungen, unter denen die öffentliche Meinung weniger durch objektive Tatsachen als durch Gefühle und persönliche Ãœberzeugungen beeinflusst wird. In postfaktischen Diskussionen - natürlich vorwiegend in den „unsozialen Medien“ - werden „einseitige und falsche Informationen“ verbreitet und das „tumbe Volk“, das natürlich vorwiegend „neurechts“ ausgerichtet ist -  orientiert sich hauptsächlich an Stammtischen und seinen Bauchgefühlen. Darin sehen die etablierten Medien den eigentlichen Grund für den massiven und realen Verlust ihrer Glaubwürdigkeit. Kanzlerin Merkel sagte am 19.09.2016 nach der krachend verlorenen Berlin-Wahl: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen.“ Das „tumbe Volk“ hat es halt nicht begriffen!

Die zur Selbstkritik meist unfähigen Politiker übersehen dabei, dass sie ihre Politik sehr häufig nicht oder nicht verständlich genug erklärt haben und sich deswegen vorwiegend selbst darauf beschränken, die Gefühlswelt der Bürger anzusprechen und die Wähler so zu „mobilisieren“, um Ãœberzeugen durch Fakten geht es dabei einer kleinen Minderheit. Dazu kommt, dass nicht wenige Politiker etablierter Parteien zu feige sind, sich öffentlich kritischer Diskussion, zum Beispiel mit Vertretern der AfD zu stellen, weil ihnen die Fakten oder Argumente fehlen. Und die vielfach eher regierungsfreundlichen Medien verbreiten dann die einseitigen Meinungen und Gefühlsäußerungen der Politiker, teilweise sogar als Nachrichten, und tragen so eher zum Ansprechen von Gefühlen bei als zur wahren, ausgewogenen faktischen Information. Im Ergebnis führt das wohl dazu, dass viele unzureichend politisch gebildete Bürger ihre Wahlentscheidung vorwiegend gefühlsmäßig treffen - verursacht durch auch systembedingte unzureichende Schulbildung in den deutschen Bundesländern, aber auch aufgrund unzureichender Sachinformation durch Politiker und Medien.

NachMerkels Entscheidung, sich erneut zur Wahl für das Amt des deutschen Kanzlers zu stellen, sprechen die meisten deutschen Medien von der „unentbehrlichen Merkel“ oder finden andere gefühlsbetonte lobende Vokabeln. Die New York Times erklärt Merkel zur „letzten Verteidigerin der freien Welt“ und der bald Ex-US-Präsident Obama sieht in der deutschen Bundeskanzlerin „eine unverrückbare Säule der westlichen Welt, die die Stabilität in Europa erhalten kann“ und meint, er habe sich keine standfestere Partnerin auf der Weltbühne vorstellen können. Die niederländische Zeitung VOLKSKRANT versteigt sich sogar: „Angela Merkel ist zu diesem Zeitpunkt am besten geeignet, Europa auf dieser bizarren Weltbühne zu vertreten, wegen ihrer Erfahrung und dem Respekt, den sie genießt.“ Solchen Aussagen und Feststellungen ist sicher keine gründliche Recherche vorausgegangen, sie sind eher postfaktisch.

Nun zu den Fakten. Merkel ist nicht „unentbehrlich“, weil sie etwa als visionäre und durchsetzungsfähige deutsche Staatsfrau gebraucht würde, sie hat sich als Parteipolitikerin eher dadurch unentbehrlich gemacht, dass sie alle CDU-Politiker mit Charisma und von Format weggebissen hat. So gibt es in der Riege unterwürfiger CDU-Politiker derzeit offensichtlich keinen, der sich traut gegen Merkel anzutreten, ein wirkliches Armutszeugnis. Die „Kanzlerin-Alternativlos“ macht sich so selbst bedauerlicherweise alternativlos.

Wenn die New York Times glaubt, Merkel zur „letzten Verteidigerin der freien Welt“ erklären zu sollen, dann folgt sie wohl eher ihrem Bauchgefühl. Angela Merkel wurde in einem Elternhaus sozialisiert, das aus freien Stücken aus dem freien Westdeutschland in die DDR verlegt wurde, um dem real existierenden Sozialismus zu huldigen. Das bleibt nicht folgenlos. Die junge Merkel „funktioniert“ im System und wird sogar FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Dafür musste man in der sozialistischen Diktatur schon handverlesen werden. Offensichtlich gehörte die ehrgeizige und systemkonforme Physikerin der sowjetisch geprägten Wissenschaftselite des SED-Staates an und trat bis 1989 für einen demokratischen Sozialismus ein. Frau Merkel hat sich daher erst 1989, also sehr spät für den Demokratischen Aufbruch in der DDR entschieden und so noch zeitgerecht die Kurve pragmatisch gemeistert.

Darüber hinaus gehören zu einer westlichen Neo-Jeanne d´Arc doch wohl auch Ãœberzeugungen und Visionen. Die wenig standhafte Merkel hat ihre Ãœberzeugungen stets angepasst. Mal ist Schluss mit Multikulti und der Islam gehört nicht zu Deutschland, wenn es dann opportun erscheint, schließt sie sich doch der werte- und geschichtsvergessenen Aussage ihres präsidialen Fehlgriffs Wulff an und erklärt den Islam zum Teil Deutschlands. Kanzlerin Merkel hat die Laufzeiten für Atomkraftwerke gut begründet verlängert, um zwei Jahre später Fukushima aus rein wahltaktischen Gründen zu benutzen, um die Energiewende planlos, konzeptionslos und mit der EU nicht abgestimmt unter Ausnutzung von Bürgerängsten zu entscheiden. Merkel hat über Jahre aufgrund der demokratischen Entwicklung der Türkei für eine höchstens privilegierte Partnerschaft plädiert, wenn es dann darum geht, ihre verfehlte Flüchtlingspolitik einzuhegen, vergisst sie unsere Werte und hofiert den chauvinistischen und islamistischen Machthaber Erdogan geradezu unterwürfig. Und wenn man die freie westliche Welt verteidigen soll, dann braucht man einen politischen Plan, ein Konzept und eine entsprechende Strategie. Während ihrer Kanzlerschaft hat Merkel keinen langfristigen Plan entwickelt. Die visionslose Kanzlerin Merkel entwickelt sich schrittweise mit den Ereignissen und anstatt in Alternativen zu denken und zu planen, erklärt sie die beabsichtigte Vorgehensweise für „alternativlos“ - basta - und hat natürlich keinen Plan B. In der Flüchtlingskrise im September 2015 hat sie sich entsprechend konzeptionslos, planlos, kopflos und hilflos gezeigt.

Und da meinen Journalisten sogar, eine solche Politikerin sei zu diesem Zeitpunkt am besten geeignet, Europa auf dieser bizarren Weltbühne zu vertreten, wegen ihrer Erfahrung und dem Respekt, den sie genießt. Deutschland ist eines von derzeit noch 28 EU-Mitgliedern, zahlt entsprechend der Wirtschaftsleistung am meisten in die Gemeinschaft ein, hat aber nur eine Stimme. Die EU hat einen Ratspräsidenten, einen Kommissionspräsidenten mit 28 Kommissaren und ein EU-Parlament. Die EU ist eine werteorientierte Solidargemeinschaft in der wichtige Entscheidungen einstimmig zu treffen sind. Wie soll Merkel da Europa wirkungsvoll vertreten? Außerdem ist es keinesfalls so, dass Kanzlerin Merkel von allen Mitgliedern respektiert wird. Deutschland und seine politischen Vertreter werden dann respektiert, wenn wir bereit sind, bei Problemen und in Krisen finanziell zu unterstützen. Wenn Deutschland versucht richtige und zukunftsorientierte Politik durchzusetzen wie in der Euro-Krise, dann wird die ungeliebte Mittelmacht eher als Zuchtmeister - gerne auch in SS-Uniform oder mit Hitler-Bärtchen - verunglimpft. Und durch ihre verfehlte und mit der EU zunächst nicht abgestimmte Flüchtlingspolitik hat Merkel zur Spaltung der EU beigetragen und insbesondere bei den ost- und südosteuropäischen Mitgliedstaaten erheblich an Respekt, Reputation und Achtung verloren. Die Politiker und Medien dieser Staaten bewerten die faktisch aggressive Politik Putins sowie die realen Völkerrechtsverletzungen Russlands und fordern entsprechende Reaktionen der NATO sowie der EU und haben kein Verständnis für eine deutsche Kanzlerin, die es zulässt, dass der deutsche Außenminister die von Deutschland mitgetragene NATO-Sicherheitspolitik und die EU-Sanktionspolitik gegenüber Russland hintertreibt. In diesen Ländern freut sich niemand öffentlich, dass Merkel erneut antritt.

Die deutschen Politiker, die jetzt über die Lobhudelei für Merkel jubeln und sich gar selbst geschmeichelt fühlen, sollten die Fakten prüfen und feststellen, dass weder Merkel das Zeug hat, als „Leader oft the free world“ zu fungieren, noch Deutschland die politischen Rahmenbedingungen für das erfolgreiche Ausfüllen einer solchen Funktion bieten kann. Solange Deutschland auf nicht absehbare Zeit nur 1.22 statt der vereinbarten 2 Prozent der Brutto-Inlandsproduktes in die Gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen der NATO investiert und diese Mangelinvestition nur in kleinsten Schritten anhebt, bleibt es nur ein eingeschränkt ernstzunehmender Partner in den Flügeln der Weltbühne. Mit unserer ganzen Politik machen wir außerdem auch nicht deutlich, dass wir zukünftig mehr Verantwortung auf der Weltbühne tragen können und wollen. Wie oft wurde uns durch die USA schon „Partnership in Leadership“ angeboten - wir haben uns immer weggeduckt. Das wird und muss aufgrund unserer eingeschränkten sicherheitspolitischen Möglichkeiten auch so bleiben!

(22.11.2016)

 

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