Hans-Heinrich Dieter

Logistik ist nicht alles...   (23.08.2012)

 

Militärischer Rückzug ist aufwändig und gefährlich. Ein Feldherr wurde früher in den von Deutschland geführten Kriegen erst dann als großer Feldherr angesehen, wenn er einen Rückzug erfolgreich und verlustarm geführt hatte. Die Bundeswehr hat noch keinen Rückzug führen müssen.

Im Norden Afghanistans kreisen die Gedanken und Ãœberlegungen derzeit denn auch wohl vorwiegend um die logistischen Herausforderungen des „Redeployments“, um den Rückbau der vielen militärischen Einrichtungen, um die Rückverlegung unzähliger Fahrzeuge und wertvollen Materials, unter den Einschränkungen von Mandatsobergrenzen und unter gleichzeitiger Erfüllung des militärischen Haupt-Auftrages. Logistiker haben dabei sicher ihren Sinnspruch im Kopf, „Logistik ist nicht alles, aber ohne Logistik ist alles nichts!“

Wer allerdings das „Redeployment“ der Bundeswehr aus dem Norden Afghanistans vorwiegend als eine logistische Herausforderung betrachtet, der hat die instabile und sehr schwer vorhersehbare Sicherheitslage am Hindukusch zu wenig im Blick. Das kann fatale Folgen haben.

Die afghanischen Sicherheitskräfte sind derzeit ungefähr 350.000 Mann stark. Sie sollen nach Aussagen der ISAF zu 75 % für anspruchsvollere Operationen befähigt sein, wenn sie beraten werden. Bis 2014 kann sich die so dargestellte Lage noch verbessern und möglicherweise können die afghanischen Sicherheitskräfte den Rückzug der ISAF-Truppen teilweise sogar sichern. Andererseits leidet ISAF unter zunehmenden Ãœberfällen auf ihre Soldaten durch afghanisches Sicherheitspersonal. Seit Jahresbeginn gab es Berichten zur Folge 31 Ãœberfälle von Afghanen in Armee- oder Polizeiuniformen, bei denen 39 ausländische Soldaten getötet wurden. Im Jahr 2011 sollen es 21 Angriffe mit 35 Toten gewesen sein. Die Lage ist also inzwischen offensichtlich so prekär, dass der Kommandeur der ISAF-Truppe, US-General John Allen, allen ausländischen Soldaten befohlen hat, immer eine geladene Waffe zu tragen. Außerdem sollen US-Soldaten bei Treffen mit bewaffneten afghanischen Sicherheitskräften von schussbereiten Begleitern, sogenannten „Schutzengeln“ begleitet werden, die mit geladenen Waffen bereitstehen, um sofort zu schießen, wenn erforderlich. Das Vertrauen in die afghanischen Sicherheitskräfte ist offensichtlich nachhaltig gestört. Dazu kommt, dass trotz höherer Bezahlung der afghanischen Sicherheitskräfte immer wieder Ãœberläufe zu den Taliban, teilweise im Dutzend und mit Waffen und Gerät, zu beklagen sind. Taliban-Kommandeur Mullah Omar lobt daher auch nicht nur die "Erfolge" seiner Radikalislamisten im Kampf gegen die Nato-Truppen in Afghanistan, sondern erklärt auch öffentlich, die Taliban hätten die afghanische Armee und Polizei unterwandert. Darüber hinaus wird das Reintegrationsprogramm für Aufständische, wohl zu Recht, sehr kritisch gesehen, denn nicht jeder reintegrierte „Aufständische“  ist Taliban und möglicherweise eher an dem ausgezahlten Geld interessiert und wirkliche Taliban nutzen das Programm, so wird teilweise unterstellt, für eine bezahlte Pause und gleichzeitige Möglichkeit zur Unterwanderung des Systems. Insgesamt aber sitzt die Angst tief, dass die Taliban nach dem Abzug der ISAF nicht nur an Kollaborateuren der „Besatzer“ sondern auch an abtrünnigen ehemaligen Taliban blutige Rache nehmen werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind daher inzwischen sehr unsichere Verbündete, denen man nicht guten Gewissens traut und denen man möglicherweise auch die Ãœbernahme von Sicherungsmaßnahmen für das Redeployment nicht anvertrauen mag oder kann.

Und die Taliban sind weiterhin unbesiegt, tatkräftig und aktiv. Sie sind weiterhin zu landesweiten, spektakulären Anschlägen in der Lage und sie haben die Initiative. Die Ausgangslage für erfolgreiche Anschläge der islamistischen Terroristen wird sich mit dem Personalabbau der ISAF-Truppen, der Ausdünnung von Gefechtsfahrzeugen und Waffensystemen sowie der zwangsläufigen Konzentration bzw. Schwerpunktverlagerung auf logistische Aufgaben deutlich verbessern. Die Taliban werden den Rückzug massiv gefährden können. Das passt natürlich nicht in die politischen Umfangsvorstellungen und von diesen abhängige militärische Zahlenspiele für die Planung des Rückzuges.

Die Entwicklung der Lage in Afghanistan ist nur schwer prognostizierbar. Die Sicherheitslage ist und bleibt absehbar sehr fragil. Deswegen muss nicht nur den deutschen Streitkräften für die Phase der Doppelbelastung in Afghanistan – bisherige Auftragserfüllung und gesicherte Rückverlegung – das erforderliche Kräftedispositiv, einschließlich einer großzügigen Reserve, zugestanden werden, wenn der Auftrag erfolgreich erfüllt werden soll. Bis zum erfolgreich durchgeführten Rückzug wird militärisches Personal nicht in nennenswerten Größenordnungen reduziert werden können, im Gegenteil. Man wird jeweils etwa ein Drittel mehr Personal brauchen, um die zusätzlichen logistischen Aufgaben wahrnehmen und die Sicherheit für logistische Verlegungen gewährleisten zu können. Dazu ist eine Reserve unabdingbar, um auf Verschlechterungen der Sicherheitslage reagieren und hinreichende Sicherheit für die Soldaten gewährleisten zu können. Der Sinnspruch für den Rückzug der deutschen Truppen aus Afghanistan könnte daher modifiziert lauten: „Logistik ist bei weitem nicht alles, aber ohne hinreichend geschützte Logistik und gut gesicherte Transportwege ist alles sehr gefährlich und möglicherweise nichts!“

Die Volksvertreter im Bundestag werden das bei den anstehenden Entscheidungen zu einem gesonderten Mandat und zu Mandatsobergrenzen hoffentlich im Sinne der deutschen Soldaten, des vom Parlament erteilten Auftrages und der afghanischen Bevölkerung berücksichtigen.

(23.08.2012)

 

 

nach oben

 

zurück zur Seite Klartext