Hans-Heinrich Dieter

In Afghanistan nichts Neues?   (01.07.2015)

 

Die politische Lage und die Sicherheitslage Afghanistans sind sehr fragil. Die Zentralregierung in Kabul ist schwach und kann nur ungenügend Einfluss in ganz Afghanistan ausüben. Die Taliban terrorisieren das Land mit wieder zunehmendem Erfolg, die Menschen leben in Angst. Die Korruption grassiert weiter. Afghanistan ist weiterhin der größte Opiumproduzent der Welt. Die Regierung bekommt die Lage nicht in den Griff, auch weil sie mit dem internen Machtkampf zwischen dem Lager von Präsident Ghani und dem Lager von Regierungsgeschäftsführer Abdullah beschäftigt ist. Die Sicherheitskräfte haben an Einsatzbereitschaft gewonnen, sind aber überdehnt, überfordert, weiterhin unzuverlässig und nicht in der Lage, der übernommenen Sicherheitsverantwortung gerecht zu werden, die Macht der Taliban zu brechen und die afghanische Bevölkerung zu schützen - sie haben die Lage nicht unter Kontrolle. Im ganzen Land hat die Gewalt zugenommen, auch in Gebieten und Provinzen, die vorher als sicher galten. Afghanistan befindet sich unverändert im Bürgerkrieg - Ausgang offen - und ein Religionskrieg ist nicht mehr unwahrscheinlich. Afghanistan ist weiterhin nicht in der Lage, selbst für seine Sicherheit zu sorgen. In Afghanistan hat sich sehr wenig zum Guten geändert! Also nicht viel Neues in Afghanistan!

Diese Lage beschäftigt natürlich auch die Verteidigungsminister der NATO bei ihrem letzten Treffen in Brüssel. Eigentlich wollte die Bundeswehr bis Ende 2015 den Resolute-Support-Einsatz aus dem Stützpunkt in Masar-i-Scharif beenden und sich dann auf eine Beratermission aus Kabul heraus - definitiv nur bis Ende 2016 - konzentrieren. Nun wollte sich Ministerin von der Leyen in Brüssel nicht mehr festlegen, wann die Bundeswehr Afghanistan ganz verlassen wird. Aus ihrer Sicht ist das "jetzt überhaupt nicht das Thema". Es gehe jetzt erst einmal darum, noch ein halbes Jahr die Verantwortung im Norden zu behalten "und Anfang 2016 den Rückzug auf Kabul zu organisieren".Von diesem neuen Plan wollte die Ministerin die 21 Partnernationen der Deutschen im Norden Afghanistans noch überzeugen. Wenn der deutsche Einsatz im Norden Afghanistans um mindestens ein halbes Jahr verlängert wird, dann wird sich auch der ursprünglich bis Ende 2016 avisierte vollständige Abzug der NATO-Truppen - und damit auch der Bundeswehr - aus Afghanistan deutlich verzögern. Einer Exit-Strategie folgt Deutschland dabei nicht, vielmehr richtet sich die Bundeswehr einmal mehr nach den noch wenig durchsichtigen Absichten der USA. Dabei ist es höchste Zeit, dass alle Beteiligten der Realität nicht nur ins Auge sehen sondern auch entsprechend handeln.

Sicher ist, dass Afghanistan noch über viele Jahre von Hilfszahlungen der internationalen Staatengemeinschaft abhängig sein wird und dass die Sicherheitskräfte noch jahrelang finanzielle Unterstützung aus dem Ausland brauchen werden, dafür sind bereits heute vier Milliarden Dollar zugesagt. Und Deutschland finanziert mit 430 Millionen Euro jährlich wirtschaftliche und strukturelle Entwicklungen. Wir wollen und müssen Afghanistan helfen. Gerade deswegen ist es aber wichtig, Hilfszahlungen an konkrete Auflagen zu binden. Von den jährlich 430 Millionen Euro bis mindestens 2016 werden deswegen 60 Millionen konditioniert.

Nach dem langen und wenig erfolgreichen Engagement seit 2001 sollte Deutschland eigentlich an dem Plan festhalten, die Bundeswehr Ende 2016 aus Afghanistan abzuziehen und dann weitere Hilfszahlungen nun wirklich von konkreten rechtsstaatlichen und wirtschaftlichen Fortschritten abhängig zu machen. Deutsche NGO´s sollten nur noch dann eingesetzt werden, wenn afghanische Sicherheitskräfte tatsächlich eine „ausreichende Sicherheitslage“ garantieren können. Wenn über 2016 hinaus ausländische Truppen in Afghanistan eingesetzt oder stationiert werden müssen, dann sollten das eigentlich Staaten wie die USA übernehmen, die geostrategische Interessen in Afghanistan und den benachbarten Regionen verfolgen. Deutschland hat solche Interessen dort nicht!

Die Lage hat sich aber möglicherweise gravierend geändert. Der "Islamische Staat" scheint in Afghanistan mehr und mehr Fuß zu fassen. Schon Anfang des Jahres bestätigten Vertreter der afghanischen Behörden und des Militärs, dass die Terrormiliz auch im Süden des Landes in der Provinz Helmand aktiv sei. Inzwischen sagt auch Präsident Ashraf Ghani, dass der IS in Afghanistan an Einfluss gewinnt: "Die Welt muss verstehen, dass der 'Islamische Staat' und seine Verbündeten auch für unsere Region eine furchtbare Bedrohung sind. Sie suchen nach neuen Operationsfeldern. Wir sind ein Frontstaat." Dabei kann es durchaus sein, dass Ghani hauptsächlich die Absicht verfolgt, die US-Truppen länger in Afghanistan zu halten. Tatsache ist aber, dass die immer noch von Al-Qaida, Pakistan und Saudi-Arabien unterstützten afghanischen Taliban in Kämpfe mit dem IS verwickelt sind. Und auch US-Militärs gehen davon aus, dass der IS versuchen wird, "seine Präsenz in Afghanistan im Laufe des kommenden Jahres auszuweiten".

Die NATO und die USA sollten deswegen unter Nutzung ihrer Aufklärungsmöglichkeiten und Nachrichtendienste Klarheit schaffen, wie groß die Bedrohung durch den IS in Afghanistan ist und wie sie sich wahrscheinlich entwickeln wird. Wenn sich hier eine gemeinsame Bedrohung Afghanistans sowie der noch im Land verbliebenen NATO-Truppen, Berater, NGO´s und Entwicklungshelfer abzeichnet, dann müsste es zu einer größeren regionalen Zusammenarbeit im Kampf gegen das Krebsgeschwür IS kommen, so lange der IS in Afghanistan noch im Aufbau begriffen ist. Und ein gemeinsamer Kampf gegen den "Islamischen Staat" könnte dabei sogar Friedensverhandlungen mit den Taliban anstoßen. Diese Lageentwicklung passt natürlich nicht mit dem voraussichtlich ab Anfang 2017 ins Auge gefassten Übergang von Resolute Support in eine zivil geführte NATO-Ausbildungsmission mit dem Namen "Enhanced Enduring Partnership" zusammen. Die USA und die NATO müssen sich also entscheiden, ob sie Afghanistan beim absehbaren Kampf gegen den IS unterstützen wollen. Das allerding hieße, erneut für einen nicht zu definierenden Zeitraum durchsetzungsfähige Kampftruppen einzusetzen.

Wenn sich die USA mit der westlichen Welt entscheiden sollten, den IS auch in Afghanistan bekämpfen zu wollen, dann müssen sie auf der Grundlage eines UN-Beschlusses ganz neu planen. Anderenfalls sollten sie an den bisherigen Planungen festhalten und alles NATO-Militär bis Ende 2016 aus Afghanistan abziehen. Entweder - oder!

(01.07.2015)

 

 

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