Hans-Heinrich Dieter

Deutscher politischer Kompass? (11.09.2011)

 

Ausgerechnet Helmut Kohl wirft seinen Nachfolgern im Amt vor, keinen politischen Kompass zu haben. Im Hinblick auf die  Außen- und Europapolitik sagt Kohl: "Deutschland ist schon seit einigen Jahren keine berechenbare Größe mehr - weder nach innen noch nach außen." Und der Altkanzler meint, Deutschland und Europa müssten ihre Verantwortung für die Welt "endlich wieder wahrnehmen." Es liegt in der Natur des Menschen, die eigene Leistung zu überhöhen und sich die Zeit der eigenen Verantwortung positiv vor Augen zu führen. Helmut Kohl ist sicher in dieser Hinsicht ein ganz normaler - allerdings sehr eitler -  Mensch.

Ein Kompass ist ein Navigationshilfsmittel, das jeweils die Richtung vom eigenen Standort zu einem definierten Ziel angibt. Zur sinnvollen Nutzung eines Kompasses sollte man also den eigenen Standort kennen und das Ziel definiert haben. Wenn man nun die deutsche Nachkriegsgeschichte an diesen Grundregeln misst, dann kann man feststellen, dass die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik wohl den eigenen Standort kannte, das Ziel aber selten eindeutig über Schlagworte hinaus definiert hat.

Adenauer hatte so etwas wie einen Kompass: eigener Standort war das besetzte, nicht souveräne und unter dem Kriegs- und Nazi-Trauma leidende Deutschland, das Ziel war die Integration in die westliche Staatengemeinschaft und die Verhinderung einer deutschen Neutralität. Allerdings war das nur ein Pseudo-Kompass, denn Deutschland hat nicht navigiert, es hat sich vielmehr, der gesamtpolitischen Lage angepasst, navigieren lassen.

Helmut Schmidt hat diesen Pseudo-Kompass weiter benutzt und mit Erfolg das eher pazifistisch eingestellte Deutschland in der Nachrüstungsdebatte auf Westintegrationskurs gehalten.

Helmut Kohl hat diesen Kurs auf der Grundlage der Verdienste  Schmidts beibehalten und durch die Bemühungen um die Einigung Europas und die deutsch-französische Freundschaft als Parallelkurs ergänzt. In dieser Zeit gab es durchaus so etwas wie eine ziemlich simple Kontinuität deutscher Außenpolitik unter sehr einfachen gesamtpolitischen Rahmenbedingungen.

In der Zeit der Verantwortung Helmut Kohls entwickelten sich die Dinge unverhofft sehr positiv für Deutschland. Aufgrund der Erosion des Warschauer Paktes ergab sich die Chance zur deutschen Wiedervereinigung. Kohl, geschweige denn Genscher, hatten dafür weder Plan noch Kompass. Helmut Kohl hat den Mantel der Geschichte beherzt gepackt und die Vereinigung Deutschlands geschafft. Das ist sein bleibender Verdienst. Bis zur Wiedervereinigung war Deutschland berechenbar durch seine Unselbständigkeit und Willfährigkeit der westlichen Staatengemeinschaft gegenüber. In der Phase der Vereinigung war Deutschland für die Partner nicht berechenbar und insbesondere konnte aus der Sicht Frankreichs, Großbritanniens und Italiens von einer Kontinuität deutscher Außenpolitik nicht die Rede sein. Und mit der Souveränität Deutschlands ergaben sich eine grundlegend andere politische Lage und eine andere und größere Verantwortung. Jetzt waren Standortbestimmung und Zieldefinition erforderlich, aus einem Pseudo-Kompass musste jetzt ein wirklich funktionsfähiger politischer Kompass werden.

Dieser politischen Pflicht sind Kohl/ Genscher und andere nicht gerecht geworden. Deutschland freute sich über seinen neuen Standort, konnte ihn selbst aber in die Weltpolitik nicht so recht einordnen. Deutschland hat es versäumt, seine vitalen Interessen und politischen Ziele für die deutschen Bürger, die Partner und politischen Gegner eindeutig nachvollziehbar zu definieren und zu formulieren. Und wenn Kohl heute sagt, Deutschland und Europa müssten ihre Verantwortung für die Welt "endlich wieder wahrnehmen," dann ist das eher peinlich, denn Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg zielgerichtete - "kompassgesteuerte" - Verantwortung für die Welt bisher noch nie wahrgenommen, unter Kohls Verantwortung ohnehin nicht. Bisher haben wir hauptsächlich "solidarisch" aber ohne genauen Plan eher nur mitgemacht, wenn es wahltaktisch und parteipolitisch geboten schien. Das ausschlaggebende politische Ziel auch in dieser Zeit war innenpolitisch orientierter Machterhalt.  Und wenn Kohl nun meint, Deutschland habe seinen Kompass verloren, dann hat er Unrecht, denn man kann nicht verlieren, was man nicht besitzt.

Und nun stellt Kohl in hohem Alter fest:  "Wir müssen wieder und für andere erkennbar deutlich machen, wo wir stehen und wo wir hin wollen", Deutschland laufe sonst Gefahr, "beliebig und unberechenbar zu werden." Das ist schon dreist, denn hätte er in seiner Verantwortung den politischen Standort Deutschlands für alle nachvollziehbar bestimmt und Ziele deutscher Außen- und Sicherheitspolitik definiert - wie es seine Verantwortung gewesen wäre - wäre Deutschland schon lange ein berechenbarer und besserer Partner gewesen. Mit seiner Kritik beeinträchtigt Kohl die Möglichkeit für politisch denkende Bürger, seinen Wert zu schätzen.

Nach Kohl geht es außenpolitisch konzeptionslos weiter. Weder Schröder/Fischer noch Merkel/Steinmeier haben definierte außen- und sicherheitspolitische Ziele, sie sind genau wie - oder auch wegen - Kohl ohne definierten politischen Kompass.

Unter Schröder/Fischer nehmen wir - hauptsächlich um Solidarität zu zeigen - an dem völkerrechtlich nicht legitimierten Bosnienkrieg teil und sind heute noch kostenträchtig auf dem Balkan engagiert. Nach der eher emotional orientierten Zusage geradezu bedingungsloser Unterstützung der USA im Krieg gegen den Terrorismus nach 9/11 hat Schröder im provinziellen Goslar dann wahltaktisch der deutschen Beteiligung am Irak-Krieg eine Absage erteilt. Für unsere Teilnahme am Krieg in Afghanistan haben wir auch kein sicherheitspolitisches Konzept, Schröder/Fischer haben vielmehr illusionsbeladen und blauäugig unsere Soldaten in den Einsatz geschickt. Von Kompass keine Spur.

In der Verantwortung Merkel/Steinmeier wurde geradezu dürftige Außenpolitik gemacht. Verantwortliche Politiker wie der dilettierende Jung führten Vokabeln wie "vernetzte Sicherheitspolitik" im Munde, ohne dass Außenminister Steinmeier offenkundig zu wissen schien, dass er für die deutsche Afghanistanpolitik die Federführung hat. Pars pro toto.

Heute versuchen Merkel/Westerwelle so etwas wie eigenständige deutsche Außenpolitik zu machen, Beispiel Enthaltung in der Libyen-Frage. Diese "Eigenständigkeit" ist durch definierte deutsche Ziele nicht begründbar, war unnütz sowie ungeschickt und macht Deutschland angreifbar, insbesondere auch, weil diese politische Entscheidung von der Opposition und den Medien für Fundamentalkritik instrumentalisiert wird. Es ist wie es war, Deutschland navigiert nicht, es laviert um politische Eckpunkte herum.

Hätte Helmut Kohl Deutschland mit der Wiedervereinigung und Souveränität einen "politischen Kompass" gegeben, dann könnten wir uns heute unserer gewachsenen Verantwortung entsprechend weniger willfährig und selbstbewusster in die Weltpolitik einbringen. Da Helmut Kohl dieser Verantwortung nicht gerecht geworden ist, wird es dringend erforderlich, dass noch in der derzeitigen Legislaturperiode deutsche vitale Interessen und Ziele definiert und in ein außen- und sicherheitspolitisches Konzept eingebunden werden. Das ist eine schwere Aufgabe mit politischer Sprengkraft. Damit könnte sich die schwarz/gelbe Bundesregierung zusammen mit der noch vorhandenen Parlamentsmehrheit um Deutschland verdient machen.

Kohl hat recht, wenn er sagt, dass Deutschland seit Jahren - mangels definierter Konzepte - keine berechenbare politische Größe ist. Die teilweise berechtigte Kritik des Altkanzlers Kohl - in einer so komplexen politischen Lage mit vielfältigen globalen Einflüssen, wie er selbst sie nie zu bewältigen hatte - richtet sich aber auch gegen ihn selbst. Das wird er nicht merken oder nicht merken wollen.

(11.09.2011)

 

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