Hans-Heinrich Dieter

Brexit - ja aber!   (28.03.2019)

 

Ich habe mit der Familie in Großbritannien gelebt, in der NATO und auch mehrfach im Auslandseinsatz intensiv mit britischen Offizieren zusammengearbeitet und das United Kingdom mehrfach bereist, zuletzt 2018 . Wir haben gute britische Freunde, die welt- sowie europaerfahren und deswegen auch „Remainer“ sind. Bei der Zusammenarbeit in der NATO und im Einsatz habe ich die hohe Professionalität und die mehrfache Einsatzerfahrung britischer Militärs kennen und schätzen gelernt. Und im alltäglichen Zusammensein in England war es immer angenehm, den politischen Pragmatismus der „reasonable british people“ und „common sense“ zu erleben. Deswegen war ich überzeugter Brexit-Gegner, auch weil sowohl das United Kingdom als auch die Europäische Union beim Brexit verlieren werden.

Meine allgemeine Wertschätzung des Mutterlandes der parlamentarischen Demokratie und der britischen Bürger hat aber im Zuge des britischen Umgangs mit der Brexit-Problematik deutlich gelitten. Die britische Bevölkerung hat sich zu einem Referendum über den Austritt aus der EU nötigen lassen, ohne über die politischen und ökonomischen Folgen hinreichend informiert und so zu einer rationalen Entscheidung fähig zu sein. In der Folge des sehr knappen Wahlausgangs hat sich die britische Bevölkerung von 2016 bis 2019 tief gespalten. Die britische Regierung unter Theresa May ging lange davon aus, dass Großbritannien aufgrund seiner vermeintlich „sehr großen Bedeutung“ für die EU das gewohnte „Cherry-Picking“ fortsetzen und so zu einem Austrittsvertrag kommen könnte, der hauptsächlich vorteilhaft für UK gestaltet wäre. Deswegen hat Großbritannien vorwiegend Angebote der EU abgewartet und dann als unzureichend abgelehnt, ohne konkrete eigene Vorstellungen oder gar Konzepte zu entwickeln. Die Verhandlungsführung seitens Großbritanniens kann man auch als Außenstehender als politisch erbärmlich beurteilen. So gingen die politischen Spiele weiter bis die Zeit knapp wurde und die Regierung May einem Vertragsentwurf der EU zugestimmt hat, mit dem das Europa der 27 Großbritannien sehr weit entgegengekommen ist – den Brexit-Hardlinern allerdings nicht weit genug!

Das hat dann zu einer planlosen und auch deswegen fruchtlosen sowie zeitverschwendenden Pendeldiplomatie der Regierung May geführt. Dass die EU richtigerweise an dem verabschiedeten Vertragsentwurf festgehalten hat, führte in London zu chaotischen parlamentarischen und exekutiven Zuständen, mit denen sich das Vereinigte Königreich mehr als lächerlich gemacht hat. Denn was soll man von einem Staatswesen halten, das plan- und konzeptionslos agiert und das sich mit einem Gemisch aus nationalistischen, isolationistischen, fundamentalistischen, halsstarrigen, sturen und „machtgeilen“ Politikern in der Regierung und im Parlament als kompromiss- und damit als politikunfähig erweist? Leider wenig! Als zuverlässigen Verhandlungspartner kann man Großbritannien im derzeitigen Chaos aber auf keinen Fall ansehen und es wird noch sehr lange dauern, bis die Briten wieder als politisch vertrauenswürdig einzuschätzen sind! Was also tun?

Ein harter Brexit ohne Vertrag wäre ökonomisch sehr schädlich für beide Seiten sowie politisch ruinös für die Gestaltung tragfähiger zukünftiger Beziehungen und sollte möglichst vermieden werden - aber nicht um jeden Preis. Das Ziel sollte weiterhin ein Brexit auf der Grundlage des ausgehandelten Vertrages sein, ohne mit der Verlängerung von Austrittsdaten die Europawahl zu beeinträchtigen. Auf keinen Fall sollte Großbritannien an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnehmen und dann möglicherweise die zukünftige Parlamentsarbeit durch etwa 50% Brexit-Abgeordnete belasten und so die „britische Seuche“ in die EU tragen. Denn die EU befindet sich selbst in einer Krise und hat genug Probleme zu lösen.

Die Europäische Union ist strukturell nur eingeschränkt entscheidungsfähig und aufgrund sich verstärkender nationalistischer Tendenzen zu gemeinsamem und solidarischem Handeln nicht fähig. Die EU ist zersplittert in Ost-West-Interessen sowie in Nord-Süd-Leistungsfähigkeiten. Und ohne strukturelle Reformen wird die EU auch handlungs- und durchsetzungsunfähig und damit erpressbar sowie Spielball der Groß- und Supermächte bleiben. Und wenn Großbritannien zum Beispiel auf der Grundlage eines zweiten Referendums in der EU verbleiben würde, wäre die Gefahr groß, dass neben Polen, Ungarn, Griechenland und Italien – um nur die auffälligsten nationalistischen oder wirtschaftlich sehr schwachen Mitglieder zu nennen – auch noch die Briten als „Quertreiber“ die dringend erforderlichen Reformen der EU behindern.

Denn die EU muss dringend handlungsfähig werden und darf nicht im Dauerkrisenmodus verharren. Dazu muss die EU ihre Struktur grundlegend ändern und darf sich nicht überdehnen. Gleichzeitig darf die EU sich nicht abschotten, sondern muss eine enge politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit einer tiefer integrierten Kern-EU mit assoziierten europäischen Partnern, ähnlich wie Norwegen, auf der Grundlage von Verträgen gewährleisten. Die bisherigen Erfahrungen mit dem „Brexit“ sollten als Chance begriffen werden, die grundlegenden Strukturänderungen endlich anzupacken!

Die EU ist für alle, die auch in Zukunft dieser friedenserhaltenden Werte- und Solidargemeinschaft angehören wollen, zu wichtig, um sie durch Nationalismus, Isolationismus und staatlichen Egoismus kaputtmachen zu lassen.

(28.03.2019)

 

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