Hans-Heinrich Dieter

Armes Afghanistan   (20.06.2013)

 

Afghanische Sicherheitskräfte haben offiziell die Verantwortung im ganzen Land übernommen, sagt Afghanistans Präsident Hamid Karsai, nachdem die letzten 95 Bezirke im unruhigen Süden und Osten Afghanistans den Afghanen übergeben worden waren. Aus Sicht Karsai´s lässt die verbesserte Sicherheitslage diesen wichtigen Schritt zu.

NATO-Generalsekretär Rasmussen sprach angesichts der Übergabe der Sicherheits-Verantwortung von einem "Meilenstein" und fügt an "Der Schwerpunkt unserer Truppen verschiebt sich jetzt vom Kampf zur Unterstützung". Und zur Beruhigung aller heimischen Politiker wird verkündet, der Prozess zum Abzug der NATO-Truppen liege "damit weiter im Plan". Das klingt alles ein wenig so, als ob man die verbleibenden eineinhalb Jahre leicht zurückgelehnt damit verbringen könnte, die politisch vorgegebenen Truppenreduzierungen zu vollziehen und vordringlich die gewaltigen logistischen Aufgaben zu erledigen. Schön wäre es! Aber eines scheint ziemlich sicher zu sein, beim Plan bleibt es, komme was wolle, denn die immense finanzielle Last von ISAF für sehr wenig Ertrag will keiner mehr tragen.

Nach der Beurteilung von Militärs hat sich die Lage in den vergangenen Monaten wieder deutlich verschlechtert. Auch die Bundeswehr musste eine positive Beurteilung der Sicherheitslage im nördlichen Verantwortungsbereich, die vornehmlich auf afghanischen Lagemeldungen beruhte, massiv korrigieren. Die Taliban haben ihre Frühjahrsoffensive nicht nur angekündigt, sondern verüben Anschläge in ganz Afghanistan in unterschiedlicher Qualität, aufgrund eigener Initiative. Die afghanischen Sicherheitskräfte haben bei der Bekämpfung von Attentätern zwar auch Erfolge, aber die Taliban sind alles andere als besiegt.

Und die Taliban nutzen natürlich Zeitpunkte von öffentlicher Aufmerksamkeit. Kurz vor der Zeremonie zur Ãœbergabe der gesamten Sicherheitsverantwortung  ermordete ein Selbstmordattentäter in der afghanischen Hauptstadt mindestens drei Zivilisten, 21 weitere wurden verletzt. Im Stützpunt Bagram wurden vier US-Soldaten durch einen Raketenbeschuss der Taliban getötet. Und der Taliban-Sprecher Mohammed Sohail Shaheen sagt anlässlich der Eröffnung des Taliban-Büros in Katar, "ohne Waffenstillstand werden die Angriffe weitergehen", auf ausländische Besatzer, auf afghanische Sicherheitskräfte und natürlich auch auf die Zivilbevölkerung. Die islamistischen Gotteskrieger werden das Heft des Handels in der Hand behalten wollen.

Deswegen will man ja auch grundsätzlich über eine Friedenslösung verhandeln. Doch über solche Verhandlungen haben die unterschiedlichen Parteien unterschiedliche Vorstellungen. Die Taliban - aber wer genau sind eigentlich die Taliban und wer ist wie legitimiert zu verhandeln - waren offenbar zu Gesprächen über eine friedliche Zukunft Afghanistans in Anlehnung an ihr Büro in Katar bereit. Die USA  wollten diese Gelegenheit nutzen und haben  - ungeschickt wie sie sein können - die Regierung Karsai nicht umfassend eingebunden. Die Taliban lehnen Verhandlungen mit der "Karsai-Marionetten-Regierung" bislang kategorisch ab, weil sie das Volk nicht repräsentiert. Karsai fühlt sich brüskiert und ist wütend, zornig, etc. und schließt eine Teilnahme seiner Regierung an den Gesprächen zwischen USA und Taliban erst einmal kategorisch aus. Die legitimierte Regierung Karsai will Verhandlungen im eigenen Land und ohne Einmischung von außen: "Die Gespräche müssen nach ihrem Beginn in Katar sofort nach Afghanistan verlegt werden. Sie müssen ein Ende der Gewalt bringen. Und die Gespräche dürfen nicht von einem dritten Land für seine eigenen Interessen missbraucht werden." Karsai will zumindest die erste Geige spielen. Das Wohl der afghanischen Bevölkerung spielt dabei leider eine sehr nachrangige Rolle und in dieser verfahrenen Lage sind die Taliban erst einmal aufgewertet und die Friedensgespräche einmal mehr blockiert.

Die politisch unglaubwürdige, unfähige und korrupte Regierung Karsai geht noch einen Schritt weiter und hat entschieden, dass die Verhandlungen mit den USA über ein Sicherheitsabkommen ausgesetzt werden. Ohne das Abkommen, das auch ein Truppenstatut beinhaltet, steht die geplante Mission in der Nachfolge von ISAF in Frage. Vom Ergebnis dieser Verhandlungen sind auch amerikanische Entscheidungen über Größenordnung und Qualität des US-Engagements ab 2015 abhängig, auf die die westlichen Partner - auch Deutschland - dringend als Grundlage für ihre Planungen warten.

Bisher will die NATO ab 2015 für die Folgemission "Resolut Support" 8.000 bis 12.000 Soldaten bereitstellen, die die afghanischen Sicherheitskräfte beraten und ausbilden. Die USA haben bisher unverbindlich von ca. 5000 Soldaten gesprochen. Die zivile Seite der internationalen Staatengemeinschaft hat sich darauf geeinigt, Afghanistan in einer „Transitionsdekade“ bis 2024 umfangreich zu unterstützen und auch bei der Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte großzügig zu helfen. Die NATO arbeitet an einem Operationsplan, der bis Juni 2013 verfügbar sein soll, die zivile Seite hinkt – wie immer- mit Entscheidungen und Planungen hinterher.

Deutschland ist bisher bereit, ab 2015 für zwei Jahre im Norden Afghanistans weiterhin Führungsverantwortung für Beratung und Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte im Rahmen Resolut Support zu übernehmen und will dafür 600 bis 800 Soldaten bereitstellen. Ab 2017 will sich Deutschland mit 200 bis 300 Soldaten in der Region Kabul in die NATO-Operation einbringen. Voraussetzung für einen solchen Einsatz sind eine formelle Einladung der afghanischen Regierung an Deutschland, ein afghanisch-deutsches Truppenstatut und natürlich eine entsprechende UN-Resolution. Bedingung für den Einsatz deutscher Soldaten ist außerdem eine „ausreichende Sicherheitslage“. Wenn nun die afghanische Regierung die Verhandlungen mit den USA aussetzt, dann sollten die westlichen Partner Karsai signalisieren, dass unter diesen Umständen Verhandlungen mit Karsai aus ihrer Sicht derzeit nicht zielorientiert und erfolgreich geführt werden können.  Karsai muss zweifelsfrei wissen, dass die westliche Unterstützung nur abgestimmt und nicht zum Nulltarif gewährt wird.

Denn die Investitionen seit 2001 haben sich leider nur sehr unzureichend ausgewirkt. Der innerafghanische Versöhnungsprozess ist noch in den Kinderschuhen, Erfolg völlig offen und jetzt auch noch torpediert. Und die Taliban haben weiterhin in vielen Landesteilen die Initiative und terrorisieren die afghanische Bevölkerung. Darüber hinaus ist Afghanistan weiterhin mit vielen Problemen konfrontiert, die nicht militärisch zu lösen sind, aber die Sicherheitslage beeinflussen. Die Wirtschaft ist unzureichend strukturiert und noch nicht leistungsfähig.  Die Korruption ist nicht im Griff, die Verwaltung und die Justiz sind ineffizient, die Schlafmohnernte und damit der Drogenhandel werden 2013 wohl Rekorde erreichen und mit Karsai ist gute Regierungsführung nicht möglich. Sein Nachfolger wird hoffentlich eine deutlich höhere politische und moralische Qualität aufweisen. Von demokratischen Verhältnissen ist Afghanistan meilenweit entfernt. Und die Afghanen wollen zwar eine Verbesserung ihrer Lebenssituation, aber nicht nach westlichem Vorbild leben.

Man darf außerdem sehr skeptisch sein, ob die geforderte  â€žausreichende Sicherheitslage“ bis Ende 2014 gewährleistet werden kann. Der geplante Umfang der afghanischen Sicherheitskräfte in Größenordnung 352.000 ist quantitativ zwar erreicht und die Verantwortung ist übergeben. Die Qualität lässt aber noch sehr zu wünschen übrig. Die Truppe zeigt sich bisher vielfach unzureichend diszipliniert und auch wenig zuverlässig. Man kann nur schwer abschätzen, ob diese Qualität bis Anfang 2015 so gesteigert werden kann, dass Afghanistan wirklich selbständig für seine Sicherheit sorgen kann. Und wenn legitimierte und an der Macht beteiligte Taliban später einmal ihren prozentualen Anteil an den Sicherheitskräften stellen, wird sich deren Zuverlässigkeit nicht steigern. Viele der afghanischen „Ortskräfte“, die etwa als Dolmetscher oder Hilfskräfte für die ISAF-Truppen gearbeitet haben, vertrauen dem eigenen Staat, der Sicherheitslage und auch Teilen ihrer afghanischen Mitbürger offenbar nicht. Sie haben Angst, dass ISAF abzieht, stellen Asylanträge oder bitten um Ausreise in NATO-Staaten. Sie fürchten um ihr Leben und das ihrer Familien, sicher in einigen Fällen wohlbegründet. Das lässt einen realistischen Blick auf das Vertrauen der Bevölkerung in die Leistungsfähigkeit der afghanischen Sicherheitskräfte zu. Von einem Erfolg des intensiven Engagements der westlichen Welt in Afghanistan kann weder politisch noch militärisch wirklich bisher die Rede sein. Und das geschundene afghanische Volk wird weiter terrorisiert und hat wenig Grund zu Hoffnung.

Das ins Auge gefasste umfangreiche und kostspielige Engagement der westlichen Staatenwelt nach 2015 darf nicht gleichermaßen erfolglos bleiben. Dazu müssen die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Der innerafghanische Versöhnungsprozess ist dabei der Schlüssel zu Erfolgen. Alle Chancen für Friedensverhandlungen sind daher - frei von Eitelkeiten - zu nutzen. Dazu müssen wir Bedingungen für unsere Unterstützung stellen, die einzuhalten sind - von Karsai und von den Taliban. Die afghanische Bevölkerung hat lange genug unter den Sowjets, den Taliban und der korrupten Regierung Karsai gelitten. Die erforderlichen politischen Änderungen muss die afghanische Bevölkerung allerdings selbst veranlassen. Auf "Karsai" darf 2014 kein "Abziehbild von Karsai" folgen aber auch kein neues islamistisches Emirat.

Wenn die afghanische Bevölkerung nicht so arm dran wäre und wir nicht schon so viel investiert hätten, einschließlich des Lebens unserer Bürger, könnte man sagen, die muslimische Welt selbst sollte dem muslimischen Afghanistan auf die Beine helfen - aber das verbietet wohl unser Gefühl.

(20.06.2013)

 

 

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