Hans-Heinrich Dieter

Wettbewerb beim Abzug aus Afghanistan (02.02.2012)

 

In Frankreich stehen Präsidentschaftswahlen an und deswegen will Präsident Sarkozy schnell, möglichst noch 2013, den Kampfeinsatz in Afghanistan beenden.

In den USA wird der Präsident neu gewählt und deswegen hofft US-Verteidigungsminister Leon Panetta, dass die US-Truppen sich schon ab Mitte 2013 auf eine "Ausbildungs- und Beraterrolle" beschränken können. Gleichzeitig will Panetta aber die auf dem Nato-Gipfel von Lissabon beschlossene Strategie zur Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Kräfte bis Ende 2014 respektieren.

Mit Afghanistan sind solche beschleunigten Abzugsüberlegungen nicht abgestimmt und entsprechend überrascht und verschnupft reagiert die Regierung Karsai auf die Aussagen Panettas.

Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sagt im Rahmen der NATO-Tagung in Brüssel, dass das Bündnis beim vereinbarten Zeitplan für den Afghanistan-Einsatz bleibe.

Verteidigungsminister de Maizière äußert die Ãœberzeugung: „Es bleibt bei der Lissabon-Strategie, die die Staats- und Regierungschefs beschlossen haben - das bedeutet, das bisherige ISAF-Mandat endet Ende 2014.“

Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Gernot Erler nutzt die sicherheitspolitische Vorlage der amerikanischen und französischen Wahlkämpfer sofort für innenpolitisch motivierte Opposition und fordert die Bundesregierung auf, dem Beispiel der USA und Frankreichs zu folgen, man solle die „selbst auferlegte Zurückhaltung bei den eigenen Abzugsplänen aufgeben“, denn es könne nicht sein, „dass Deutschland 2014 noch als einziges Land in Afghanistan eigene Soldaten mit Kampfauftrag im Einsatz hat“.

Gleichzeitig wird ein eingestuftes Dokument der NATO in England bekannt, das die Perspektive einer Machtübernahme in Afghanistan nach 2014 durch die islamistischen Taliban für sehr wahrscheinlich hält. Und jeder, der sich mit der Lage am Hindukusch beschäftigt, weiß, dass die Regierung Karsai weitgehend korrupt ist und keinen Rückhalt in den meisten Regionen Afghanistans hat und dass die im Aufbau befindlichen Sicherheitskräfte von Taliban teilweise unterwandert und deswegen nur eingeschränkt verlässlich sind. Aber nicht alle Beteiligten wollen solche Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Da bereitet man in Brüssel lieber den nächsten Gipfel in Chicago vor, bei dem zehn Jahre nach Beginn des internationalen Afghanistan-Engagements definiert werden soll, was man bis 2014 politisch in Afghanistan erreicht haben will, wie der sogenannte „endstate“ aussehen soll. Dieses zehn Jahre überfällige Papier wird nicht sehr ins Detail gehen, denn wer wird sich schon politisch an Zielen und konkreten Leistungen festnageln lassen wollen? Und dieses Papier droht, auf beschleunigte Abzugspläne zugeschnitten zu werden, ohne offensichtlich dem Rezept zu folgen, „declare victory and get out“.

Was kann sicherheitspolitisch aus dieser vielstimmigen und vielschichtigen Lage abgeleitet werden?

Die USA und Frankreich sind bereit, Absprachen und Vereinbarungen mit der NATO und der internationalen Staatengemeinschaft innenpolitischem Kalkül unterzuordnen, wenn es parteipolitisch erforderlich scheint.

Die Regierung Karsai wird nicht nur in Afghanistan wenig ernst genommen.

Die NATO wird von den USA und Frankreich als Erfüllungsgehilfe für eigene politische Ziele gesehen. Herr Rasmussen hat in deren Augen wenig Gewicht.

Deutschland versucht, das Prinzip „Übergabe in Verantwortung“ politisch zu realisieren, während die Opposition sich erneut als sicherheitspolitisch wenig verantwortungsbewusst zeigt.

Die internationale Staatengemeinschaft läuft Gefahr, im Wettbewerb um einen möglichst schnellen Abzug aus Afghanistan Augenwischerei zu betreiben, schön zu färben, ja sich selbst zu betrügen. Denn bevor von frühzeitiger Beendigung des Kampfeinsatzes westlicher Truppen und vollständiger Übergabe der Sicherheitsverantwortung an afghanische Institutionen gesprochen werden kann, müssen folgende Fragen beantwortet sein:

Bis wann wird es gelingen, dass eine nicht durch Wahlbetrug sondern nach allgemeinen, gleichen und korrekt durchgeführten Wahlen legitimierte und im Volk deswegen anerkannte Regierung für Afghanistan verantwortlich ist?

Bis wann wird die Korruption auch in der Regierung so weit reduziert werden können, dass die Regierenden ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit besitzen?

Wie und bis wann kann es gelingen, die Taliban so nachhaltig zu bekämpfen, dass sie kein politischer und militärischer Machtfaktor mehr sind und sich in Verhandlungen über die Gestaltung einer friedlichen und möglichst freiheitlichen Entwicklung einbinden lassen?

Wie kann die Unterwanderung der afghanischen Sicherheitskräfte durch die Taliban unterbunden, Abwerbungen von ausgebildeten Soldaten und Polizisten verhindert und die Verlässlichkeit der afghanischen Sicherheitskräfte deutlich erhöht werden?

Bis wann wird es gelingen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte so einsatzbereit und so verlässlich sind, dass sie auch die Sicherheit der internationalen Ausbilder und Berater nachhaltig und verantwortungsvoll gewährleisten können?

Wer über Abzugspläne und ihre Beschleunigung verantwortungsbewusst spricht, muss zum Beispiel Antworten auf solche Fragen haben. Klar ist, wenn die Sicherheit von „Beratern und Ausbildern“ nicht gewährleistet ist, weil aus innenpolitischen Gründen keine zum Kampf und zur Gewährleistung von Sicherheit geeigneten Truppenteile mehr in Afghanistan verfügbar gehalten werden sollen, dann muss man alle Berater, Ausbilder und staatlich eingesetzten Helfer sofort abziehen.

Wenn die internationale Staatengemeinschaft ohne Berücksichtigung der realen sicherheitspolitischen Lage und Regierungsfähigkeit beschleunigt und zu frühzeitig aus Afghanistan abzieht, dann sind die in mehr als zehn Jahren mit hohem menschlichen und finanziellen Einsatz erzielten geringen Erfolge für die afghanische Bevölkerung stark gefährdet und die Taliban sehr schnell wieder an der Macht. Das wäre ein erneuter nachhaltiger und großer Erfolg des Terrorismus im Zusammenhang mit dem 11. September 2001.

(02.02.2012)

 

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