Hans-Heinrich Dieter

Sündenbock EU   (24.08.2015)

 

In der Griechenlandkrise hat die Europäische Union an Ansehen in der Welt und bei den Mitgliedstaaten stark an Vertrauen verloren. In der Flüchtlingskrise wird die Europäische Union zunehmend zum Sündenbock.

Das hat eine Vielzahl von Gründen. Die Europäische Union ist von ihrer Struktur her schwach und deswegen zu wirklich gemeinsamer Politik kaum fähig. So gelingt es bisher nicht, für die EU ein außen- und sicherheitspolitisches Konzept zu formulieren. Die EU selbst macht keine gemeinsame Sicherheitspolitik, stimmt sich mit der NATO zu wenig ab und hat keine militärischen Mittel mit denen Macht ausgeübt werden könnte und wird von den USA auch deswegen in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht als Gesprächspartner auf Augenhöhe wahrgenommen. Die Versuche, eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik zu formulieren sind bisher gescheitert, nicht zuletzt am Egoismus verschiedener Mitgliedstaaten. Ausgeprägter Egoismus der Mitgliedstaaten ist auch ein Grund dafür, dass einstimmig häufig nur ein Minimalkonsens zu erreichen ist, der keine Grundlage für zukunftsorientierte und tragfähige Politik sein kann.

Wie soll das Europa der 28 als Solidargemeinschaft zukünftig funktionieren, wenn Mitglieder sich zunehmend unsolidarisch verhalten? Wie soll dieses Europa auf Dauer funktionieren, wenn Mitglieder die selbst gegebenen Regeln nicht einhalten und die EU die Einhaltung der Regeln nicht durchsetzt? Und wie soll die dringend erforderliche vertiefte Integration der Europäischen Gemeinschaft gelingen mit Mitgliedern wie Großbritannien, das Europa lediglich als Freihandelszone sehen will und ständig mit dem Austritt droht, oder Frankreich, das sich als Grande Nation versteht, entsprechend egoistisch auftritt, aber seine eklatanten wirtschaftlichen Strukturprobleme mit den regierenden Sozialisten und damit auch seine gefährliche Schuldenlast nicht in den Griff bekommt, und nicht zuletzt Italien, das ähnlich strukturschwach ist wie Frankreich und durchaus zu einem weiteren Problemfall für die Eurogruppe und die EU werden kann? Die EU zeigt sich derzeit nur eingeschränkt handlungsfähig und fordert die Sündenbockrolle geradezu heraus.

Und nun droht die ständig zunehmende Zahl von Flüchtlingen aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Afrika die Europäische Union und einzelne ihrer Mitgliedstaaten an den Rand der Handlungsunfähigkeit zu bringen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren nicht so viele Menschen auf der Flucht vor politischer Verfolgung und Krieg wie heute. Und angesichts der politischen Lage, insbesondere in der rückständigen, undemokratischen muslimischen Welt des Nahen Ostens und Nordafrikas müssen wir davon ausgehen, dass die Flüchtlingsströme sogar noch wachsen und uns auf Jahre herausfordern. Die Probleme werden inzwischen so groß, dass einzelne EU-Mitgliedstaaten schon darüber nachdenken, das hohe Gut der Freizügigkeit einzuschränken und das Schengener Abkommen teilweise außer Kraft zu setzen. Mit dem Aufstellen von Schagbäumen durch einzelne Mitgliedstaaten wird das Problem aber nicht zu lösen sein. Die EU muss jetzt als Solidargemeinschaft handeln!

Das ist leichter gesagt als getan, denn zunächst gilt es, die egoistischen Renationalisierungstendenzen der Mitgliedsländer zu überwinden. Dazu muss so schnell wie möglich eine gemeinsame europäische Asyl-, Flüchtlings-, Migrationspolitik- und Sicherheitspolitik formuliert und einvernehmlich entschieden und damit verbindlich werden. Die EU braucht gemeinsame und gleiche Verfahren an Außengrenzen und Binnengrenzen. Das Dublin-Abkommen muss gegebenenfalls angepasst werden. Die EU muss die Flüchtlingsströme durch organisatorische Maßnahmen möglichst unter Kontrolle halten. Die EU braucht gemeinsame und gleiche Standards für die Behandlung von Flüchtlingen und Asylsuchenden sowie faire und verbindliche Quoten für deren Aufnahme durch die Mitgliedsländer, entsprechend ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Und die EU muss politisch aktiv werden, um die Fluchtursachen in den Krisenregionen zu lindern und die Nachbarstaaten von Bürgerkriegsländern und zerfallenden Staaten besser zu befähigen, die Flüchtlinge menschenwürdig heimat- und kulturnah unterzubringen. Die EU muss den politischen und strategischen Rahmen für die Bewältigung der Flüchtlingskrise schaffen, das Detail ist durch die Mitgliedstaaten entsprechend der gemeinsamen Standards zu regeln. Die Einwanderungspolitik hingegen ist eine nationale Angelegenheit und auf die jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse abzustimmen.

Niemals war die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sowie einer gemeinsamen Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitikso groß wie heute. Die gemeinsamen Probleme sind nur mit einer stärker integrierten Europäischen Union zu lösen, die strukturell zu wirklich gemeinsamer Politik befähigt ist und deren Mitglieder sich solidarisch den gemeinsamen Werten und Regeln verpflichtet fühlen. Die EU und die Mitglieder, die eine vertiefte Integration wollen, sollten die Flüchtlingskrise als Chance begreifen, die Integration der Europäischen Union tatkräftig voranzubringen. Ohne vertiefte Integration wird die EU langfristig an ihrer strukturell bedingten Unfähigkeit scheitern.

(24.08.2015)

 

 

nach oben

zurück zur Seite Klare Worte