Hans-Heinrich Dieter

Schlechte Nachrichten aus Afghanistan   (30.09.2015)

 

Die politische Lage und die Sicherheitslage Afghanistans verschlechtern sich deutlich. Die Zentralregierung in Kabul ist schwach und kann nur ungenügend Einfluss in ganz Afghanistan ausüben, die Menschen vertrauen der korrupten Regierung in Kabul nicht mehr. Die Taliban terrorisieren das Land mit stark zunehmendem Erfolg. Die Menschen leben in Angst, kooperieren mit den Terroristen oder versuchen zu fliehen. Die Anzahl der Flüchtlinge steigt ständig. Die Regierung bekommt die Lage nicht in den Griff. Die Sicherheitskräfte haben an Einsatzbereitschaft gewonnen, sind aber überdehnt, überfordert, weiterhin unzuverlässig und nicht in der Lage, der übernommenen Sicherheitsverantwortung gerecht zu werden, nämlich die Macht der Taliban zu brechen und die afghanische Bevölkerung zu schützen - sie haben die Lage nicht unter Kontrolle. Im ganzen Land hat die Gewalt zugenommen, auch in Gebieten und Provinzen, die vorher als sicher galten. Afghanistan befindet sich unverändert im Bürgerkrieg - Ausgang offen. Afghanistan ist weiterhin nicht in der Lage, selbst für seine Sicherheit zu sorgen. Gestern haben die Taliban die Provinzhauptstadt Kunduz eingenommen. Inzwischen hat die afghanische Armee mit einer Gegenoffensive begonnen und das Polizeihauptquartier sowie das Provinzgefängnis zurückgewonnen. Das ist ein kleiner Erfolg, das Problem ergibt sich aber dadurch, dass die Taliban mitten unter der Zivilbevölkerung in Kunduz sind und die Menschen als Schutzschilde missbrauchen können. Sollten die Sicherheitskräfte Kunduz zurückgewinnen, dann wird das nur mit hohen Verlusten unter der Zivilbevölkerung möglich sein. Optimismus ist hier eher Illusion.

Die SPD-Politiker Annen und Arnold plädieren nun reflexartig dafür, den Rückzug der internationalen Truppen aus Afghanistan zu verschieben. Arnold verlangt, dass die rund 700 deutschen Soldaten im Norden Afghanistans ein weiteres Jahr bis Ende 2016 in voller Stärke dort bleiben und sagt: „Angesichts der Situation in Afghanistan wäre es falsch, die Afghanen völlig alleine zu lassen. … Eines kann es nicht geben: Dass wir zuschauen, wie die Taliban das Land überrennen.“ Andere Politiker der großen Koalition schließen sich dieser Meinung an und Jung (CDU) meint: "Tatsache ist ja, dass im Einsatz in Afghanistan von Seiten der Bundeswehr 55 Soldaten gefallen sind, und es kann nicht sein, dass wir einen solchen Blutzoll sozusagen bezahlt haben und nachher die Taliban doch wieder hier in die Machtposition kommen." Die Frage ist, wie viel Zeit sich diese Politiker genommen haben nachzudenken, bevor sie sich durch Mikrofone verbreiten. Was soll denn in dieser Lage die reine Verlängerung der derzeitigen, offensichtlich wenig erfolgreichen, Ausbildungsmission bewirken? Und wie lange will Jung denn wegen des deutschen Blutzolls die Bundeswehr in Afghanistan belassen? Die Russen konnten die Taliban nicht besiegen und der westliche intensive Einsatz seit 2001 hat diesbezüglich nicht zum Erfolg geführt. Die Taliban scheinen unter den jetzigen Rahmenbedingungen und mit dem derzeitigen Engagement der internationalen Truppen nicht zu besiegen zu sein. Deswegen ist es richtig, dass Verteidigungsministerin von der Leyen davor warnt, überstürzt Entscheidungen über das weitere Nato-Engagement in Afghanistan zu treffen und eine sorgfältige Analyse der derzeitigen Lage anmahnt. Und diese Lageentwicklung passt natürlich überhaupt nicht mehr mit dem voraussichtlich ab Anfang 2017 ins Auge gefassten Ãœbergang von Resolute Support in eine zivil geführte NATO-Ausbildungsmission "Enhanced Enduring Partnership" zusammen.

Die derzeitige Lage in Afghanistan wird vielmehr nicht nur durch die verstärkten, erfolgreichen Operationen der Taliban bestimmt, sondern auch durch die Aktivitäten des Islamischen Staates, der versucht in Afghanistan Fuß zu fassen. Der Einfluss des IS ist inzwischen so stark, dass Präsident Ghani feststellt:"Die Welt muss verstehen, dass der 'Islamische Staat' und seine Verbündeten auch für unsere Region eine furchtbare Bedrohung sind. Sie suchen nach neuen Operationsfeldern. Wir sind ein Frontstaat." Die Taliban sind inzwischen in Kämpfe mit dem IS verwickelt und trotzdem in der Lage, die afghanischen Sicherheitskräfte empfindlich zu treffen.

Die NATO und die USA müssen sich deswegen unter Nutzung ihrer Aufklärungsmöglichkeiten und Nachrichtendienste Klarheit verschaffen, wie groß die Bedrohung durch die Taliban und durch den IS in Afghanistan ist und wie sie sich wahrscheinlich entwickeln wird. Wenn sich hier eine gemeinsame Bedrohung der afghanischen Bevölkerung sowie der noch im Land verbliebenen NATO-Truppen, Berater, NGO´s und Entwicklungshelfer abzeichnet, dann müsste es zu einer größeren regionalen Zusammenarbeit im Kampf gegen die erstarkten Taliban-Terroristen und gegen das Krebsgeschwür IS kommen. Die USA und die NATO müssen sich also entscheiden, ob sie Afghanistan bei der aktuellen Bekämpfung der Taliban und beim absehbar erforderlichen Kampf gegen den IS militärisch unterstützen wollen. Das allerding hieße, erneut für einen nicht zu definierenden Zeitraum durchsetzungsfähige Kampftruppen und vor allen Dingen Spezialkräfte einzusetzen.

Wenn sich die USA mit der westlichen Welt entscheiden sollten, die Taliban nachhaltig zerschlagen und den IS auch in Afghanistan bekämpfen zu wollen, dann müssen sie auf der Grundlage eines UN-Beschlusses ganz neu planen und sich mit starken bewaffneten Kräften engagieren. Anderenfalls sollten sie an den bisherigen Planungen festhalten und alles NATO-Militär bis Ende 2016 aus Afghanistan abziehen, denn eine zivil geführte NATO-Ausbildungsmission ab 2017 wäre eher zum erneuten Scheitern verurteilt. Entweder - oder!

(30.09.2015)

 

 

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