Hans-Heinrich Dieter

Ohnmacht der EU   (20.02.2016)

 

Das zum Schicksalsgipfel hochgejazzte EU-Spitzentreffen in Brüssel hat die dringend wichtige Lösung der Flüchtlingskrise mit Hilfe der Türkei auf einen Sondergipfel Anfang März vertagt. Gemeinsame und solidarische europäische Lösungen zeichnen sich aber nicht ab - eine Niederlage für Kanzlerin Merkel. Dafür hat man intensiv um die Vermeidung eines „Brexit“ gerungen.

Premier Cameron hat hart verhandelt, hoch gepokert, ein wenig erpresst, die meisten seiner Kernforderungen gegen die anderen 27 EU-Staaten durchgesetzt und feiert nun sein „Gernegroßbritannien“ als KO-Sieger über eine ziemlich ohnmächtige Europäische Union. Die Ergebnisse seiner Verhandlungen fasst Cameron mit deutlich werdender Verachtung für die EU zusammen: „Großbritannien wird niemals Teil eines europäischen Superstaates sein und niemals den Euro annehmen“, … sein Land sei „für immer raus aus einer immer engeren Union“, UK werde sich „nicht an den offenen Grenzen beteiligen“ und „niemals dem Euro beitreten“, außerdem könne er "harte Beschränkungen für den Zugang zum Sozialsystem“ einführen. Er behält trotzdem ein Mitspracherecht bei Entscheidungen der Eurozone und freut sich natürlich über die vorteilhaften Extrawürste, die er mit seinem „Sonderstatus“ in der EU gebraten bekommen hat.

EU-Kommissionspräsident Juncker lobte die Vereinbarung als „gut, juristisch solide und in hohem Maße ausgeglichen“. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete die Einigung als „Kraftakt“ bei dem ihr mancher Kompromiss „schwer gefallen“ sei. Politiker müssen halt auch Niederlagen schönreden. Ein „Brexit“ ist noch nicht verhindert, aber die Solidar- und Wertegemeinschaft EU hat bereits durch das jetzige Verhandlungsergebnis massiv verloren.

Und warum sollte ein Brexit unbedingt verhindert werden? Die EU würde 13 Prozent ihrer Einwohner und 17 Prozent ihrer Wirtschaftskraft verlieren und fürchtet, ohne Großbritannien an internationalem und außenpolitischem Gewicht einzubüßen. So what? - würde ein Commonwealth-gläubiger Brite sagen. Den größeren wirtschaftlichen Schaden hätte aber unzweifelhaft Großbritannien!

Die Europäische Union ist als strukturschwache Solidar-Gemeinschaft von 28 mehr oder weniger egoistischen Nationalstaaten schon heute in einem bedauernswerten, ja geradezu mitleiderregenden Zustand. Die Europäische Union hat in der Finanz- und Flüchtlingskrise massiv an Ansehen verloren und wird als Partner in der Weltpolitik wenig ernst genommen. Mit dieser EU, die sich als handlungsunfähig präsentiert, verhandeln die USA, Russland oder China ohnehin nicht auf Augenhöhe. Das Ausscheiden Großbritanniens spielt diesbezüglich eine nachgeordnete Rolle.

Wenn die Staaten Europas sich in unserer globalisierten Welt auf der Grundlage unserer gemeinsamen Werte in Krisen stabilisierend einbringen wollen, dann geht das mit Aussicht auf Erfolg nur gemeinsam. Diese gemeinsame EU-Politik gibt es aber bisher genauso wenig wie eine gemeinsame EU-Außen- und Sicherheitspolitik, weil der Wille zu gemeinsamer Politik stark zu wünschen übrig lässt und die EU-Struktur effektive Machtausübung der Gemeinschaft verhindert. Solidarität zeigen einige der Mitgliedstaaten nur, wenn es den eigenen nationalen Interessen nützt - solche Mitglieder braucht die EU auf Dauer nicht. Die EU ist außerdem nur noch eine stark eingeschränkte Wertegemeinschaft, weil sich einige Mitgliedstaaten den gemeinsamen Werten nicht verpflichtet fühlen und die Union offenbar eher als eine Transfergemeinschaft verstehen, in der leistungsfähige Gesellschaften kaum leistungsfähige Mitglieder alimentieren. Mit Trittbrettfahrern wird die EU nicht zukunftsfähig.

Der Zusammenhalt Europas ist in einer Zeit, in der es an Solidarität mangelt und Mitgliedstaaten gemeinsam gefasste Beschlüsse nicht umsetzen, jetzt schon so geschwächt, dass das Ausscheiden eines ewig quertreibenden und die dringend erforderliche vertiefte Integration torpedierenden Mitglieds wie das egozentrische Großbritannien, das Europa lediglich als Freihandelszone sehen will und ausschließlich auf seinen Vorteil bedacht ist, nicht mehr richtig ins Gewicht fällt, sondern eher befreiend wirken kann. Denn wenn sich andere Mitglieder zukünftig ein Beispiel am unsolidarischen - und damit erfolgreichen - Großbritannien nehmen, ist die EU ohnehin tot!

Niemals war die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, einer gemeinsamen Finanzpolitik sowie einer gemeinsamen Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik so groß wie heute. Die gemeinsamen Probleme sind aber nur mit einer stärker integrierten Europäischen Union zu lösen, die strukturell zu wirklich gemeinsamer Politik befähigt ist und deren Mitglieder sich solidarisch den gemeinsamen Werten und Regeln verpflichtet fühlen. Die EU und die Mitglieder, die eine vertiefte Integration wollen, sollten die Flüchtlingskrise als Chance begreifen, die Integration der Europäischen Union tatkräftig voranzubringen. Ohne vertiefte Integration wird die EU langfristig an ihrer strukturell bedingten Unfähigkeit scheitern, mit dem unsolidarischen Mitglied Großbritannien wird die EU weiter vor sich hinsiechen. Deswegen muss die EU aus dem Koma erwachen und von Grund auf als Solidar- und Wertegemeinschaft reformiert werden. Großbritannien, Griechenland und andere unsichere Kantonisten kann eine solche neue EU nicht gebrauchen.

(20.02.2016) 

 

 

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