Hans-Heinrich Dieter

Europäische Kakophonie   (23.07.2016)

 

Wichtig wäre, dass die EU nach der Entscheidung für einen Brexit endlich einmal Handlungsfähigkeit zeigt und möglichst unverzüglich Vertragsverhandlungen mit Großbritannien darüber aufnimmt, wie die EU und Großbritannien ihre Wirtschaftsbeziehungen bei einem Ausscheiden im Sinne und zum Vorteil der EU neu regeln. Und hier bietet der Brexit - so negativ er ansonsten zu bewerten ist - auch Chancen. Um solche Chancen richtig nutzen zu können, muss sich die EU aber auch reformieren. Dazu müssten sich die 27 Mitgliedstaaten möglichst schnell über Reformziele einigen, dann gemeinsam die nötigen Reformschritte gehen und als Union mit gleichem Werteverständnis und Willen zur Solidarität mit einer Stimme sprechen. Von solchen eher idealtypischen Rahmenbedingungen ist die EU weit entfernt. Dem Anfang nach dem Brexit wohnte eben kein Zauber inne, sondern es herrscht immer noch desaströse Planlosigkeit, blamable Hilflosigkeit und europäische Kakophonie. Dabei hätte der EU-Gipfel direkt nach dem britischen Referendum eine gute Gelegenheit für grundlegende und zukunftsorientierte Weichenstellungen sein können.

Diese gute Gelegenheit wurde aber schon im Vorfeld beeinträchtigt. Der deutsche Außenminister ruft ohne Zutun der Kanzlerin die Außenminister der sechs Gründungsstaaten der EU in Berlin zusammen, um ein Punktepapier zu verfassen. Das Punktepapier wird allerdings bei dem Gipfel nicht gebraucht und so hat das Treffen die osteuropäischen Staaten und auch andere Partner erneut gegen Deutschlands vermeintlich hegemonisches Verhalten aufgebracht. Und statt um die zukünftige Handlungsfähigkeit und Effizienz der EU geht es natürlich beim Sonder-Treffen von Kanzlerin Merkel mit dem französischen Präsidenten Hollande und dem italienischen Ministerpräsidenten Renzi in Berlin um Formalitäten und ums Prozedere des Brexits. Kanzlerin Merkel wollte sich zunächst einmal Zeit und wohl weitgehend alles so weiterlaufen lassen wie bisher. Hollande und Renzi drängen aufs Tempo und wollen die Chance nutzen, um die Stabilitätskriterien aufzuweichen und einer sozialistischen Schuldenpolitik voran zu helfen. Der SPD-Vorsitzende Gabriel - genannt auch Vize-Kanzler - hat keine Richtlinien der Kanzlerin zu befolgen, denn die gibt es auch zu dieser Thematik nicht, aber auch keine eigenen weiterführenden Vorstellungen. Deswegen nimmt er zunächst das nutzlose Steinmeier-Papier als Grundlage und drängt auf rasche Verhandlungen. Dann trifft er sich mit Tsipras und unterstützt in sozialistischer Einigkeit die Dauerkritik an der vermeintlichen deutschen Austeritätspolitik, die natürlich von den Sozialistenbrüdern als die eigentliche Ursache für die schlimme wirtschaftliche Lage am Peleponnes gesehen wird. Viel eitles Gerede, wenig Substanz und alles wenig hilfreich für eine besser und gemeinsam handelnde EU.

In Brüssel hingegen herrscht Verwirrung und Planlosigkeit. Die einen drängen auf hartes Vorgehen gegen Großbritannien und kündigen an, Rosinenpickerei nicht zuzulassen. Andere wollen dem wichtigen Partner Großbritannien Zeit einräumen, auch um den wichtigen NATO-Partner nicht zu verprellen. Wieder andere drängen grundsätzlich auf Reformen mit dem Ziel einer vertieften Integration und gegebenenfalls einer Europäischen Union zweier Geschwindigkeiten. Auch die Visegrad-Staaten wollen eine Reform der EU, allerdings mit dem Ziel, die Verantwortung der souveränen Mitgliedstaaten stärker zu berücksichtigen, das bedeutet reduzierte Integration. Die einen wollen mehr Europa, die anderen wollen weniger Europa bei zumindest gleichbleibender finanzieller Unterstützung durch die EU. Die politischen Rahmenbedingungen für die Beziehungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten und dem Brüsseler Zentrum sind derzeit also sehr ungünstig, die Atmosphäre wirkt vergiftet. Dringend nötige Reformen sind unter diesen schlechten Rahmenbedingungen nicht möglich.

Die EU muss aber trotzdem als Staatengemeinschaft zukunftsorientiert handeln, wenn die Errungenschaft einer solidarischen Wertegemeinschaft Europa nicht den nationalistischen, anti-europäischen und ausländerfeindlichen Politikern in einigen Mitgliedstaaten zum Fraß vorgeworfen werden soll. Die EU muss den Brexit nutzen, um eine strategische einstimmige Antwort der 27 Mitglieder zu finden und durchzusetzen, möglichst noch vor dem ungarischen Referendum im Oktober 2016.

Die EU darf deswegen die Hinhaltepolitik Großbritanniens nicht einfach hinnehmen. Die EU muss unverzüglich eine Erklärung Großbritanniens zum Brexit-Procedere fordern und das abtrünnige Mitglied bis zum Abschluss der Austrittsverhandlungen auf der Basis des Lissabonner Vertrages von allen EU-Verhandlungen ausschließen. Die EU muss außerdem ein detailliertes Verhandlungskonzept für den Brexit entwickeln, damit andere Mitgliedstaaten erkennen können, welche politischen und wirtschaftlichen Nachteile sich aus einem Austritt aus der Gemeinschaft ergeben können.

Großbritannien soll also für die hysterisch-unsachlich geführte Anti-EU-Debatte vor dem Referendum, für die unverschämten Beleidigungen, die die vielen Europaskeptiker in den vergangenen Jahren über EU-Politiker von sich gegeben haben, für die haltlosen Spekulationen und faktenbefreiten Anschuldigungen und für die ständigen Nörgeleien sowie Sonderwünsche und nationalistischen Forderungen nicht bestraft werden. Da sind sich die 27 Mitglieder sicher einig. Großbritannien soll durchaus fair behandelt werden, aber keine privilegierte Sonderstellung abseits der EU-Richtlinien und Grundsätze erhalten.

Über eine gemeinsame Haltung und Vorgehensweise der 27 bei der Handhabung des Brexits kann die EU beginnen, die notorischen Streitereien zu überwinden, um allmählich zu einer Solidargemeinschaft zurückzufinden. Da wird ein steiniger und steiler Weg gemeinsam zu gehen sein. Ohne solche Anstrengungen hat die EU keine Zukunft.

(23.07.2016)

 

 

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