Hans-Heinrich Dieter

Das Syrien-Dilemma

 

Es gibt die völkerrechtliche Verantwortlichkeit, Menschen zu schützen, die sogenannte „responsibility to protect“. In Syrien gibt es seit fast einem Jahr Proteste gegen Präsident Assad, die der Staatspräsident mit brutaler Gewalt niederschlagen lässt. Seither wurden nach nicht zu bestätigenden Angaben von Menschenrechtsaktivisten mindestens 7600 Menschen getötet. Angesichts des Mordens in Syrien ist die internationale Staatengemeinschaft schon lange in der Pflicht, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Aber wie?

Das Veto von Russland und China verhindert eine Verurteilung des Vorgehens von Präsident Assad gegen Teile seines Volkes und ein entsprechendes Mandat des Weltsicherheitsrates, das Maßnahmen bis hin zu militärischer Intervention legitimiert.

Eine Verurteilung der syrischen Machthaber durch ein mehrheitliches Votum der UN-Vollversammlung ist da eher ein diplomatisches Ausrufezeichen ohne gravierende und die Not der Bevölkerung lindernde Auswirkung.

Maßnahmen der Arabischen Liga, wie die Beobachter-Mission Anfang 2012 in Syrien, waren bisher ohne positive Auswirkung. Die Arabische Liga spricht aber auch nicht mit einer Stimme und zum Beispiel Ägypten beobachtet sehr argwöhnisch die Versuche von Saudi-Arabien und Qatar, die Liga zu dominieren.

Die Türkei tut sich in der Syrien-Krise sehr schwer mit der etwas großspurig beanspruchten Regionalmachtrolle. Ankara fürchtet, dass sich die politischen Spannungen mit dem Iran durch türkische Maßnahmen gegen Syrien verschärfen könnten, außerdem sind die syrischen „Schutzmächte“ Russland und Iran nicht nur wichtige Absatzmärkte der türkischen Wirtschaft, sondern auch Lieferanten nicht nur großer Mengen Erdöls sondern auch von zwei Dritteln der türkischen Gas-Einfuhren, auf die die wachsende türkische Wirtschaft dringend angewiesen ist. Darüber hinaus ist die Türkei zurückhaltend bei Maßnahmen im Grenzgebiet zu Syrien, weil man eine Weiterung der Kurdenprobleme in der Grenzregion fürchtet. Deswegen sind die türkischen Diskussionen über entmilitarisierte Pufferzonen und über Schutz- oder Flugverbotszonen im Grenzgebiet zu Syrien weniger ernst zu nehmen. Und wenn der türkische Staatspräsident Abdullah Gül ein gemeinsames Vorgehen der Staaten der Region in enger Zusammenarbeit mit der Arabischen Liga fordert, weil „nichtregionale Lösungen aus der Ferne“ für die Türkei „nicht brauchbar“ seien, dann ist die Frage erlaubt, ob solche regionalen Lösungen denn überhaupt mit Erfolg „machbar“ sind. Immerhin unterstützt die Türkei Assad als engen Freund und Verbündeten aus früheren Tagen nicht mehr. Das ist, zusammen mit der Bereitschaft, syrische Flüchtlinge aufzunehmen, sehr positiv. Darüber hinaus wird die Türkei der Verantwortung, die aus der selbst beanspruchten Regionalmachtrolle erwächst, aber bisher nicht gerecht.

Eine Syrien-Kontaktgruppe, die „Freunde Syriens“, aus immerhin mehr als 60 Staaten und Organisationen, diskutierte vergangene Woche in Tunis immerhin zahlreiche Vorschläge: eine arabische Friedenstruppe, oder besser ein Ultimatum an Assad, dessen Rücktritt mit anschließendem Exil in Russland oder die Bewaffnung der Opposition? Eine Einigung hinsichtlich solcher Vorschläge wurde nicht erzielt, man will sich periodisch wieder treffen. Immerhin haben die „Freunde Syriens“ die syrische Regierung am Freitag aufgefordert, die Gewalt unverzüglich einzustellen und den UN humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Ebenso forderten sie in einer gemeinsamen Erklärung die Verschärfung der Sanktionen gegen Syrien. Außerdem soll der frühere UN-Generalsekretär Annan sich als Sondergesandter der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga in Syrien um eine politische Lösung bemühen. Das sind politische Fortschritte.

Mitten im Bürgerkrieg und unter den Bedingungen andauernder Gewalt hat Syrien ein umstrittenes Verfassungsreferendum durchgeführt, das ein Mehrparteiensystem sowie die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten vorsieht. Aber das Regime Assad hat nicht nur bei großen Teilen seiner Bevölkerung das Vertrauen verspielt, auch die Vertreter der westlichen Welt glauben nicht, dass der Gewaltherrscher wirklich reformieren will, sondern sehen in dem Referendum eher einen weiteren Versuch, Zeit zu gewinnen und die Macht zu bewahren. Deswegen wollen die Außenminister der Europäischen Union heute in Brüssel weitere und schärfere Sanktionen gegen das syrische Regime beschließen.

Derweil wurde die syrische Opposition verstärkt. Al Kaida hat sich mit der Opposition solidarisch erklärt und will unterstützen und auch die Hamas, die noch bis vor kurzem von Damaskus aus operieren durfte, kündigte nun Unterstützung für die Regime-Gegner an. Hamas-Ministerpräsident Hanija lobte am Freitag „das mutige syrische Volk, das sich auf Demokratie und Reform zubewegt“.

Die Medien begleiten den Bürgerkrieg sehr engagiert, natürlich auf der Seite der „Guten“. Und natürlich werden Maßnahmen gefordert, die dem Morden ein Ende bereiten. Die Bewaffnung der Opposition und eine militärische Intervention werden da am häufigsten als mögliche Lösungen ins Feld geführt.

Aber „die Opposition“ ist wesentlicher Teil des Dilemmas. Wer bildet diese Opposition? Wie viele Gruppierungen hat die Opposition? Welche politischen Ziele verfolgen die einzelnen Gruppen dieser Opposition? Welche Rolle spielt der „Syrische Nationalrat“ (SNC), als Verband von sieben von vielen Oppositionsgruppen, wirklich in dieser Gemengelage der Opposition? Ist die Formulierung der „Freunde Syriens“, der Rat sei lediglich eine von vielen „legitimen Vertretern von Syrern, die einen friedlichen Wandel suchten“ gerechtfertigt und woher erhalten solche Oppositionsvertreter ihre Legitimation? Welche Teile der Opposition unterstützt Al Kaida und mit wem genau solidarisiert sich die Hamas? Welche Bedeutung hat die  „Freie Syrische Armee“ (FSA) für den bewaffneten Kampf gegen die Armee Assads oder sind es nicht vielmehr vorwiegend die zahlreichen unterschiedlichen lokalen Milizen, denen sich Armeedeserteure angeschlossen haben, die die Hauptlast des bewaffneten Widerstandes tragen? Auf alle diese Fragen gibt es bisher keine befriedigenden Antworten. Experten und nachrichtendienstliche Fachleute sprechen denn auch davon, dass es in Syrien „keine einheitliche oppositionelle Kraft gibt“. Die zersplitterten Gruppierungen seien sehr lokal begrenzt und beruhten meist auf regionalen, religiösen oder ethnischen Prinzipien. Ein Syrien-Experte hält die Opposition für ebenso „morsch und ideologisch bankrott“ wie das Regime Assad selbst. Wen also wollte man mit Waffen zu welchem Zweck beliefern? Wenn es das Ziel ist, die Zivilbevölkerung zu schützen, dann sollte man außerdem berücksichtigen, dass der syrische Mittelstand und nicht geringe Teile der syrischen Zivilbevölkerung - einschließlich der christlichen Minderheit - die ihre Stellung in der Gesellschaft erhalten wollen, auf der Seite Assads stehen, denn die fürchten sich vor allem was nach Assad kommen könnte, hauptsächlich vor fundamentalistischen Kräften. Diese Teile der Gesellschaft würden durch Waffenlieferungen an die bisher undefinierbare Opposition einer erhöhten Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt. Dass Al Kaida und Hamas auf der Seite der syrischen Opposition sind, führt das Dilemma sehr plastisch vor Augen.

Bleibt die Frage der militärischen Intervention. Eine militärische Intervention in den Bürgerkrieg in Syrien bedarf meiner Auffassung nach zwingend der Legitimation durch den UN-Sicherheitsrat. Wenn man außerdem den vielen bisherigen Aussagen auch von Regimekritikern glauben darf, dann lehnen die meisten Syrer eine Militärintervention bisher als „Angriff auf die Einheit Syriens“ ab. „Die Opposition – wenn sie denn irgendwann ein „Gesicht“ hat und erkennbar mit einer mehrheitlich akzeptierten Stimme spricht und deswegen auch im völkerrechtlichen Sinne große Teile der syrischen Bevölkerung legitimiert vertritt – muss eine äußere militärische Einmischung ausdrücklich wollen und dann auch mit der Freien Syrischen Armee kooperieren. Die Opposition muss zu einer wirklichen Alternative zum Regime und zu einem legitimierten Gesprächspartner werden, wenn eine militärische Intervention grundsätzlich Erfolg haben kann. Bisher sind alle diese Rahmenbedingungen nicht gegeben. Und so lange man sich in der Opposition heftig streitet, ob denn ein militärisches Einwirken von außen das Blutvergießen stoppen kann oder vielmehr die Kämpfe im Bürgerkrieg noch anheizt und das Land mit seiner Bevölkerung eher spaltet, werden Vorschläge wie der des Ministerpräsidenten Qatars, der eine arabische Truppe fordert, „um Syrien Frieden zu bringen“ und „humanitäre Korridore“ zu öffnen, hauptsächlich für die politische Galerie gedacht. Gut an diesem Vorschlag ist allerdings, dass an eine arabische Truppe gedacht und offenbar ein regionaler Ansatz verfolgt wird, denn Streitkräfte der westlichen, nicht-muslimischen Welt haben in arabischen Konflikten nichts verloren, höchstens viel zu verlieren.

So schwer es auch angesichts der schweren Krise in Syrien und des mörderischen Vorgehens des Regimes Assads gegen Teile der Bevölkerung fällt: die westliche Staatenwelt sollte deswegen ausschließlich versuchen, zu nicht-militärischer, politischer Konfliktbewältigung beizutragen und humanitäre Hilfsmaßnahmen nach Kräften unterstützen, um das Leid der Zivilbevölkerung zu lindern. Das Rote Kreuz leistet im Zusammenwirken mit dem Roten Halbmond schon segensreiche Arbeit. Den Bürgerkrieg beenden können nur die Syrer selbst mit Unterstützung der arabischen und muslimischen Welt – wenn letztendlich erforderlich, auch mit militärischen Mitteln.

Die „responsibility to protect“ fällt in dem arabischen und muslimischen Land Syrien hauptsächlich der Arabischen Liga zu. Wenn dazu besondere Bewaffnung erforderlich wird, dann sollte man sie der Arabischen Liga liefern.

(27.02.2012)

 

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